Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.

 Kapitel XIII.

 41. Ohne alle Lust fleischlicher Begierde wurde also Christus gezeugt oder empfangen und blieb darum auch von jeglicher Befleckung durch die Erbsünde frei; dabei wurde er durch Gottes Gnade mit dem eingeborenen Worte des Vaters, mit dem Sohne, nicht aus Gnade, sondern kraft seiner Natur in wunderbarer und unfaßbarer Weise aufs engste verbunden und so auch von jeder persönlichen Sünde frei. Trotzdem aber ist Christus wegen der Ähnlichkeit mit dem „Fleische der Sünde“, in der er auf Erden erschien, selbst geradezu „Sünde“ genannt worden, da er zur Tilgung der Sünden geopfert werden sollte. Im Alten Testament hießen nämlich die Opfer für die Sünden auch selbst Sünden; wovon aber jene alttestamentlichen Opfer nur Schattenbilder waren, das ist Christus in Wirklichkeit geworden. Darum setzte der Apostel [Paulus] seinem Worte: „Wir bitten an Christi Statt: versöhnet euch mit Gott!“ sofort noch weiter hinzu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte [Christus], für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit vor Gott würden.“ Der Apostel sagt nicht, wie man in manchen fehlerhaften Handschriften liest: „Derjenige, der von keiner Sünde wußte, hat für uns eine Sünde begangen“, gerade als ob Christus selbst für uns gesündigt hätte, sondern er sagt: „Denjenigen, der von keiner Sünde wußte,“ nämlich Christus, ‚hat [der] Gott für uns zur Sünde gemacht, mit dem wir wieder versöhnt werden sollen, d.h. er hat ihn zum Opfer für die Sünden gemacht, so daß wir Versöhnung finden können. Christus ist also ebenso zur Sünde geworden, wie wir zur Gerechtigkeit. Es ist dies nicht unsere Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit Gottes, sie ist nicht eine Gerechtigkeit in uns, sondern in ihm, ebenso wie Christus nicht zu seiner eigenen, sondern zu unserer Sünde wurde, zu einer Sünde, die nicht in ihm, sondern in uns begründet ist. Dies geschah durch die Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde, worin er gekreuzigt wurde. So wollte er, weil ihm eine eigene [persönliche] Sünde ja nicht innewohnte, durch den fleischlichen Tod, in dem das Bild der Sünde lag, gewissermaßen der Sünde selbst sterben; und da er selbst niemals den alten Menschen der Sünde in seinem Leben an sich getragen hatte, so wollte er damit auch unser neues, aus dem alten Tod, den wir in der Sünde gestorben waren, wieder erwachtes Leben durch seine Auferstehung besiegeln.
 
42. Denn gerade darin liegt ja die Wirkung des großen Sakramentes der Taufe, das an uns vollzogen wird, daß jedermann, der dieser Gnade teilhaftig wird, der Sünde absterbe, geradeso wie auch Christus selbst nach der Lehre unseres Glaubens der Sünde gestorben ist; denn er ist dem Fleische nach, das heißt im Bilde der Sünde gestorben. Außerdem soll der Getaufte geradeso wie Christus durch seine Auferstehung aus dem Grabe, durch sein Bad der Wiedergeburt zum Leben gelangen. Das leibliche Alter spielt dabei gar keine Rolle.
 
43. Denn vom neugeborenen Kinde an bis zum gebrechlichen Greis darf niemand von der Taufe ausgeschlossen werden; aber ebensowenig gibt es auch einen, der nicht in der Taufe der Sünde absterben würde; die Kinder sterben natürlich nur der Erbsünde ab, ältere Leute dagegen auch all jenen Sünden, die sie durch ein böses Leben noch persönlich der ihnen schon durch ihre Geburt anhaftenden [Erb]sünde hinzugefügt haben.
 
 
44. Allein auch von diesen sagt man gewöhnlich, sie stürben „der Sünde“ ab, obwohl sie doch unzweifelhaft nicht bloß einer einzelnen, sondern all den vielen Sünden absterben, die sie selbst in Gedanken, Worten oder Werken begangen haben. Denn man drückt gar oft mit der Einzahl die Mehrzahl aus. So heißt es z.B. beim Dichter [Vergil]: „Und bewaffnet füllt der Soldat den Bauch [des trojanischen Rosses]“, obwohl dies doch von vielen [nicht bloß von einem] Soldaten geschah. Auch in unserer [Heiligen] Schrift liest man: „Bete also zum Herrn, daß er die Schlange von uns wegnehme!" Es heißt nicht „die Schlangen“ und doch war das Volk damals von [vielen] Schlangen heimgesucht, als es so sprechen sollte. Dergleichen Beispiele gibt es noch unzählige. Andererseits wird aber auch die eine Erbsünde wieder mit der Mehrzahl bezeichnet, wenn wir sagen, die kleinen Kinder würden zur Vergebung der Sünden getauft, nicht zur Vergebung der Sünde. Hier haben wir also im Gegenteil eine Redeweise, in der wir durch die Mehrzahl die Einzahl ausdrücken. So heißt es auch im Evangelium nach dem Tode des Herodes: „Tot sind nämlich diejenigen, die dem Kinde nach dem Leben strebten“ und nicht: „Tot ist ...“ Und im Buche Exodus heißt es: „Sie machten sich goldene Götter“ und doch hatten sie sich bloß ein einziges Kalb gemacht, von dem sie sagten: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Lande Ägypten geführt haben“: auch hier steht wieder die Mehrzahl an Stelle der Einzahl.
 
45. Gleichwohl kann auch schon in jener einen Sünde, die durch den einen Menschen in die Welt kam und so auf alle Menschen überging und um deretwillen auch die kleinen Kinder schon getauft werden, eine Mehrheit von Sünden unterschieden werden, wenn man diese eine Sünde sozusagen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt. Denn in ihr findet sich Stolz, insoferne der Mensch es vorzog, lieber in seiner eigenen, statt in Gottes Gewalt zu stehen; Gotteslästerung, insoferne er Gott keinen Glauben schenkte; Mord, weil er sich selbst in den Tod stürzte; Unreinheit des Geistes, insoferne die Unversehrtheit des menschlichen Geistes durch die Verführung der Schlange zerstört wurde; Diebstahl, insoferne sich der Mensch eine verbotene Speise anmaßte; Habgier, insoferne er mehr begehrte, als ihm hätte genügen sollen, und was etwa sonst noch in diesem einen Vergehen bei sorgfältiger Erwägung gefunden werden kann.
 
46. Dabei ist auch die Behauptung nicht unwahrscheinlich, daß den Kindern auch noch die [persönlichen] Sünden ihrer Eltern nachhängen, d.h. also nicht bloß die Sünden der ersten Menschen, sondern auch die der eigenen Eltern, von denen sie geboren sind. Jener göttliche Ausspruch: „Ich werde die Sünden der Väter an den Kindern strafen“ liegt sicher wenigstens solange auf ihnen, als sie nicht durch die Wiedergeburt [in der Taufe] dem Neuen Testament einverleibt sind. Dieses [Neue] Testament aber wurde vorausverkündet, als durch Ezechiel das Wort erging, die Kinder würden die Sünden ihrer Väter nicht mehr erben und es werde in Israel nicht mehr länger der Spruch gelten: „Unsere Väter haben sauere Trauben gegessen und den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden.“ Denn zu dem Zweck wird jeder wiedergeboren, damit er von jeder angeborenen Sünde befreit werde. Diejenigen Sünden nämlich, die erst später durch [eigenes] böses Tun begangen werden, können ja auch durch Buße wieder gut gemacht werden, wie wir es auch tatsächlich nach der Taufe geschehen sehen. Und somit ist folglich die Wiedergeburt nur deshalb angeordnet, weil unsere Geburt eine verderbte ist, und dies bis zu dem Grade, daß der doch aus rechtmäßiger Ehe stammende [David] von sich sagt: „In Ungerechtigkeiten bin ich empfangen und in Sünden hat mich meine Mutter in ihrem Schöße genährt.“ Auch David sagt hier nicht: „in Ungerechtigkeit oder in Sünde“ [Einzahl!], sondern er wollte lieber von „Ungerechtigkeiten und Sünden“ [Mehrzahl!] reden, obwohl er ganz richtig auch so hätte sagen können; denn auch in jener einen Sünde, die auf alle Menschen überging und die so groß ist, daß durch ihre Schuld die menschliche Natur ganz umgestaltet und der Notwendigkeit des Sterbens unterworfen wurde, findet sich, wie ich weiter oben ausgeführt habe, eine Mehrheit von Sünden. Zudem teilen auch die anderen [persönlichen] Sünden der Eltern, wenn sie auch keine ähnliche Umgestaltung der Natur bewirken können, den Kindern doch eine gewisse Verschuldung mit, wenn ihnen nicht die unverdiente göttliche Gnade und Erbarmung zu Hilfe kommt.
 
 
47. Was jedoch die Sünden der übrigen Vorfahren betrifft, deren Nachkomme einer in der Linie der Abstammung von Adam bis zum eigenen Vater ist, so läßt sich mit gutem Grund darüber streiten, ob der Mensch mit seiner Geburt auch in deren böse Taten und in eine [nach der Zahl der Vorfahren] angewachsene Erbsündenlast verstrickt wird, so daß einer um so schlimmer daran wäre, je später er geboren ist, oder ob Gott die Nachkommen wegen der Sünden der Eltern aus dem Grunde bloß bis ins dritte und vierte Geschlecht bedroht, weil er seinen Zorn, soweit er die Schuld der Vorfahren betrifft, aus barmherziger Mäßigung sich nicht weiter erstrecken lassen will; denn sonst würden jene, denen die Gnade der Wiedergeburt nicht zuteil wird, bei ihrer Verdammung von einer allzu schweren Last bedrückt werden, wenn sie die von all ihren Vorfahren seit dem Beginne der Menschheit ererbten Sünden auf sich nehmen und die dafür verschuldeten Strafen erdulden müßten. Ob sich schließlich über eine so wichtige Frage bei sorgfältigerer Erforschung und Erklärung der Heiligen Schrift noch eine andere Auffassung entdecken ließe oder nicht, das wage ich nicht ohne weiteres zu entscheiden.
 
Kapitel XIV.
 
48. Jene eine Sünde indes, die an der Stätte und im Zustand einer so großen Seligkeit [Paradies] begangen wurde und die so bedeutend war, daß in dem einen Menschen [Adam] das ganze Menschengeschlecht schon in seinem Ursprung und sozusagen in der Wurzel der Verwerfung anheim fiel, wird nur getilgt und ausgelöscht durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus, der allein so geboren werden konnte, daß er der Wiedergeburt nicht bedurfte.
 
49. Denn die Taufe des Johannes, von dem sich auch Christus taufen ließ, bewirkte ja keine Wiedergeburt, sondern [die von Johannes Getauften] wurden nur durch das vorläufige Amt dessen, der da sagte: „Bereitet dem Herrn den Weg“, für den zugerüstet, in dem sie allein wiedergeboren werden konnten [Christus]: denn dessen Taufe ist es, die nicht bloß wie die Taufe des Johannes im Wasser, sondern auch im Heiligen Geiste geschieht, damit wer immer an Christus glaubt, wiedergeboren wird aus jenem Heiligen Geist, in dem Christus zwar geboren wurde, in dem er aber nicht wiedergeboren zu werden brauchte. Darum wies auch jene Stimme des [himmlischen] Vaters, die über dem getauften Jesus erscholl: „Ich habe dich heute gezeugt“, nicht auf jenen einen zeitlichen Tag hin, an dem er getauft wurde, sondern auf den Tag der unwandelbaren Ewigkeit, um zu zeigen, daß jener Mensch mit seinem eingeborenen Sohn eine Person sei. Denn wo der Tag nicht mit dem Ende des gestrigen beginnt und mit dem Anfang des morgigen aufhört, da ist immer heute. Mit Wasser wollte also Christus von Johannes getauft werden, nicht damit irgendeine Sündhaftigkeit an ihm getilgt, sondern damit uns das Vorbild großer Demut gegeben werde. Es fand ja die Taufe nichts an ihm, was sie hätte können, wie auch der Tod nichts an ihm fand, was er hätte strafen können. [Er litt aber den Tod,] damit der Teufel in wahrhafter Gerechtigkeit und nicht durch gewaltsame Übermacht völlig besiegt würde; weil er den, der nicht durch die kleinste Sünde Strafe verwirkt hatte, ganz ungerecht getötet hatte [nämlich Christus], so sollte er selbst mit vollem Recht derjenigen verlustig gehen, die er mit Recht wegen ihrer Sünden in seiner Gewalt hatte [nämlich der Menschen]. Beides also, die Taufe [durch Johannes] so gut wie den Tod, hat Christus um der sicheren Befreiung willen auf sich genommen, aber nicht aus bedauerlicher Notwendigkeit, sondern vielmehr aus barmherzigem Bedauern; er, der eine, wollte auf diese Weise die Sünde der Welt hinwegnehmen, wie der eine [Adam] die Sünde in die Welt, d.h. über das gesamte Menschengeschlecht, gebracht hat.
 
 
50. Es besteht indes der Unterschied [zwischen Adam und Christus], daß jener eine [Adam] bloß die eine Sünde über die Welt brachte, während dieser eine [Christus] nicht bloß die eine Sünde Adams, sondern auch alle Sünden hinwegnahm, die er noch hinzugekommen fand. Darum sagt der Apostel [Paulus]: „Nicht so, wie mit dem einen, der sündigte, verhielt es sich auch mit der Gabe. Denn die Verurteilung erfolgte zwar auf Grund der einen Sünde zur Verdammung, die Gnade aber [rettete] aus vielen Sünden zur Rechtfertigung.“ Denn jene eine Sünde, die infolge ihrer Abstammung [von Adam] den Menschen anhaftet, macht schon für sich allein der Verdammnis schuldig; die Gnade aber rechtfertigt von vielen Verfehlungen den Menschen, der außer der einen Sünde, die er sich gemeinsam mit allen infolge seiner Abstammung zugezogen hat, auch noch eigene Sünden in vielfacher Zahl begangen hat.
 
 
51. Wenn indes der Apostel gleich nachher sagt: „Gleichwie durch die Sünde des einen [Adam] über alle Menschen Verdammnis kam, so kommt auch durch die Gerechtigkeit des einen [Christus] auf alle Menschen Rechtfertigung des Lebens“, so drückt er damit doch deutlich genug aus, daß von Adam kein Mensch abstammt, der nicht der Verdammnis verfällt, daß aber auch kein Mensch der Verdammnis ledig wird, der nicht in Christus wiedergeboren wird.
 
52. Nachdem aber der Apostel über die durch den einen Menschen [Adam] verschuldete Strafe und über die durch den einen Menschen [Christus] verdiente Gnade in einer dem Umfang seines Briefes angemessenen Ausführlichkeit gesprochen hatte, redete er von dem im Kreuze Christi verborgenen großen Geheimnis der heiligen Taufe in einer Weise, daß wir erkennen müssen, die Taufe in Christus sei nichts anderes als ein Abbild des Todes Christi, der Tod des gekreuzigten Christus aber hinwiederum nichts anderes als das Abbild der Sündennachlassung. Wie also bei Christus [am Kreuze] wahrhaftig der Tod eintrat, so erfolgt bei uns [in der Taufe] wahrhaftig der Nachlaß unserer Sünden, und wie bei ihm [auf den Kreuzestod] wirklich die Auferstehung folgte, so folgt bei uns [auf die Wiedergeburt in der Taufe] wirklich die Rechtfertigung. Denn der Apostel fährt fort: „Was sollen wir nun sagen? Werden wir in der Sünde verharren, damit die Gnade um so reichlicher sein kann?“ Vorher hatte er nämlich gesagt: „Als aber die Sünde groß wurde, da wurde die Gnade noch überschwenglicher.“ Darum stellte er sich dann selbst die Frage, ob man denn nun um eine solch überschwengliche Gnade zu erlangen, nicht in der Sünde verharren soll. Allein er gab die Antwort: „Das sei ferne!“ und fuhr dann dort: „Denn da wir ja der Sünde schon abgestorben sind, wie sollen wir denn da noch in ihr leben?“ Um aber zu zeigen, daß wir wirklich der Sünde schon abgestorben sind, fügte er noch weiter hinzu: „Oder wißt ihr denn nicht, daß wir alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, in seinem Tode getauft sind?" Wenn sich also aus der Tatsache, daß wir im Tode Christi getauft sind, ergibt, daß wir der Sünde abgestorben sind, so sterben gewiß auch die kleinen Kinder der Sünde ab, die in Christus getauft werden; denn auch sie werden in seinem Tode getauft. Heißt es ja doch ganz ohne jede Ausnahme: „Alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, sind in seinem Tode getauft. „Und so heißt es zum Beweise dafür, daß wir der Sünde abgestorben sind. Welch anderer Sünde könnten nun aber die Kinder durch die Wiedergeburt [in der Taufe] absterben, als gerade derjenigen, die sie sich eben durch ihre Geburt zugezogen haben? Darum gilt auch von ihnen, was der Apostel weiter sagt: „Wir sind also durch die Taufe [dem alten Menschen nach] mit ihm [Christus] begraben, damit, wie Christus durch die Kraft des Vaters wieder vom Tode erweckt worden ist, so auch wir zu neuem Leben erstehen und es in unserem Wandel betätigen. Er ist dem Leibe nach am Kreuze, wir sind geistigerweise in der Taufe gestorben. Er ist glorreich auferstanden; auch wir sollen als neue Menschen auferstehen. Darum ist ja gerade unser alter Mensch gleichsam mit ihm gekreuzigt worden, damit die Sinnlichkeit des Leibes vernichtet werde und wir der Sünde nicht mehr dienen. Wie ein Toter zu sündigen aufgehört hat, so soll sich auch jeder der Sünde enthalten, der geistigerweise gestorben ist. Sind wir aber mit Christus der Sünde wahrhaft abgestorben, so glauben und vertrauen wir, daß wir auch an seinem Gnadenleben teilnehmen werden. Wir wissen ja alle: Christus stirbt nicht mehr, nachdem er auferstanden ist; der Tod hat keine Gewalt mehr über ihn. Ein für allemal ist er gestorben, um die Sünde zu tilgen, hinfort aber lebt er zur Verherrlichung des Vaters. So sollt auch ihr, dem Bösen abgestorben, in Gemeinschaft mit Christus Jesus nur für Gott leben!“ Somit hatte der Apostel den Beweis dafür unternommen, wir dürften zu dem Zwecke, daß die Gnade überschwänglicher werde, nicht in der Sünde verharren. „Da wir der Sünde abgestorben sind,“ hatte er gesagt, „wie sollten wir da noch in ihr leben können?“ Und zum Zeichen, daß wir der Sünde auch tatsächlich abgestorben seien, hatte er hinzugefügt: „Oder wißt ihr nicht, daß wir alle, die wir in Christus Jesus getauft sind, in seinem Tod getauft worden sind?“ Er kommt also am Schluß der ganzen Stelle wieder auf den Ausgangspunkt zurück. Vom Tode Christi sprach er nämlich so, daß er sagt, auch Christus sei der Sünde gestorben. Was konnte er da für eine andere Sünde meinen, als die des Fleisches, in dem zwar nicht die Sünde selbst, wohl aber das Abbild der Sünde bestand und das deshalb geradezu selbst Sünde genannt wird? Denen also, die im Tode Christi getauft sind, in dem nicht bloß die Erwachsenen, sondern auch die Kinder getauft werden, ruft er zu: „Also, d.h. so wie Christus, sollt auch ihr dafür halten, daß ihr dem Bösen abgestorben seid und daß ihr in Gemeinschaft mit Christus Jesus nur für Gott leben dürft.“
 
 
53. Alles also, was bei der Kreuzigung Christi, bei seinem Begräbnis, bei seiner Auferstehung am dritten Tag, bei seiner Himmelfahrt und bei seinem Sitzen zur Rechten des Vaters geschah, vollzog sich in der Weise, daß dadurch ein Abbild des christlichen Lebens hier auf Erden geschaffen wurde, und zwar nicht bloß durch seine geheimnisvollen Reden, sondern auch durch seine Taten. So heißt es z.B. bezüglich seines Kreuzes: „Diejenigen aber, die Jünger Jesu Christi sind, haben ihr Fleisch mit seinen Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“; bezüglich seines Begräbnisses: „Wir sind ja mit Christus durch die Taufe zum Tode [dem alten Menschen nach] begraben“; bezüglich seiner Auferstehung: „Gleichwie Christus durch die Kraft des Vaters wieder vom Tode erweckt wurde, so sollen auch wir zu neuem Leben erstehen und es in unserem Wandel betätigen“; und bezüglich seiner Himmelfahrt und seines Sitzens zur Rechten des Vaters heißt es: „Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so trachtet nach dem, was droben ist, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt; sucht, was im Himmel, nicht, was auf Erden ist; denn ihr seid [in der Taufe dem alten Menschen nach] gestorben; euer [neues] Leben aber ist noch verborgen mit Christus in Gott.“
 
54. Wenn wir aber nun weiterhin von Christus bekennen, daß er vom Himmel kommen wird, „um die Lebendigen und die Toten zu richten“, so hat dies auf unser Leben keinen Bezug mehr; denn diese Tat gehört ja nicht mehr zu den Werken, die er [auf Erden] vollbracht hat, sondern zu denen, die er erst am Ende der Welt vollbringen muß. Dementsprechend fügt der Apostel seinen oben angeführten Worten noch weiter hinzu: „Wenn Christus, euer Leben, einmal erscheinen wird, dann werdet auch ihr mit ihm in Herrlichkeit erscheinen.“
 
55. Den Satz: „Er wird die Lebendigen und die Toten richten“ kann man jedoch doppelt auffassen: Entweder so, daß man unter den Lebendigen diejenigen versteht, die Christus dereinst bei seiner Ankunft hier auf Erden noch nicht gestorben, sondern noch im Fleische lebend finden wird, unter den Toten aber diejenigen, die schon vor seiner Ankunft ihren Leib verlassen haben oder ihn noch vorher verlassen werden; oder man kann ihn so auffassen, daß wir unter den Lebendigen die Gerechten, unter den Toten aber die Ungerechten verstehen; denn es werden ja auch die Gerechten gerichtet werden. Gar manchmal wird nämlich der Ausdruck „Gericht Gottes“ gesetzt für „Gericht [Verurteilung] über einen bösen Menschen“. In diesem Sinne heißt es: „Die aber Böses verübt haben, [werden hervorgehen] zur Auferstehung des Gerichtes“; manchmal wird der Ausdruck auch wieder von den Guten gebraucht; so, wenn es z.B. heißt: „O Gott, in deinem Namen rette mich und in deiner Kraft richte mich!“ Denn gerade durch das Gericht wird ja die Scheidung zwischen Guten und Bösen vollzogen; dadurch werden die Guten zur Rechten [des Richters] aufgestellt“, um so vom Bösen befreit und mit den Bösen nicht verdammt zu werden. In diesem Sinne ruft der Psalmist aus: „Richte mich, o Gott!“ und setzt dann gleichsam zur Erklärung noch hinzu: „Und scheide meine Sache von dem unheiligen Volke!“