Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.

 

 Kapitel XVII.

 64. Aber auch schon jetzt besteht zwischen den Engeln und uns Herzenseinheit, wenn wir Nachlaß unserer Sünden erlangen. Deshalb folgt im Glaubensbekenntnis nach dem Artikel von der Kirche der von dem Nachlaß der Sünden. Diesem Sündennachlaß verdankt nämlich die Kirche auf Erden ihr Bestehen; dadurch geht das, was verloren war, aber wieder gefunden wurde, nicht mehr verloren. Wir besitzen zwar schon das Gnadengeschenk der Taufe; das ist uns aber als Heilmittel gegen die Erbsünde verliehen worden, damit der Makel, den wir uns durch unsere Geburt zugezogen haben, durch die Wiedergeburt [in der Taufe] wieder von uns genommen werde; daneben nimmt die Taufe auch noch sämtliche persönlichen Sünden hinweg, die sie vorfindet und die wir in Gedanken, Worten und Werken begangen haben. Aber abgesehen von dieser Gnadeneinrichtung [der Taufe], von der die Erneuerung des Menschen ihren Anfang nimmt und durch die jede angeborene und jede später noch hinzugefügte Verschuldung getilgt wird, kann doch auch das ganze übrige Leben von dem Zeitpunkt des Vernunftgebrauches an nicht auf eine Vergebung der Sünden verzichten und wenn es noch so fruchtbar an Werken der Gerechtigkeit wäre; denn auch die Kinder Gottes haben mit dem Tode [der Sünde] zu kämpfen, solange sie im sterblichen Leben wandeln. Von diesen Gerechten mag es mit noch soviel Berechtigung heißen: „Alle, die vom Geiste Gottes getrieben werden, sind Kinder Gottes“: sie werden doch nur so vom Geiste Gottes angeregt und schreiten als Kinder Gottes nur soweit wirklich zu Gott fort, daß sie durch die Schuld ihrer [sündigen] menschlichen Geistesverfassung und vor allem durch die Schuld der auf diesen Geist drückenden Last des sündigen Leibes als [wahre] Menschenkinder infolge mancherlei menschlicher Regungen sozusagen zu sich selbst herabsinken, d.h. sündigen. Übrigens ist hier wohl zu unterscheiden: denn wenn auch jedes schwere Vergehen eine Sünde ist, so ist doch noch nicht jede Sünde schon ein schweres Vergehen. Wir dürfen also recht wohl sagen, der Wandel eines Heiligen werde zeitlebens ohne eigentliches schweres Vergehen befunden, „wollten wir aber dagegen sagen,“ spricht der große Apostel [Johannes], „wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns“
 
65. Doch mag einer auch noch so schwere Verbrechen begangen haben, er braucht deshalb doch dank der Barmherzigkeit, die Gott in der heiligen Kirche erweist, nicht an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln: er soll nur Buße tun nach dem Maße seiner Sünde. Ist aber die Sünde von solcher Art, daß der Sünder auch vom Leibe Christi getrennt werden muß, dann kommt es bei der Übung der Buße nicht so sehr auf das Maß der Zeit, als vielmehr auf das Maß des Reueschmerzes an. „Denn ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz verschmäht Gott nicht.“ Weil jedoch der Seelenschmerz des einen einem andern meist verborgen bleiben wird und sich nicht durch Worte oder sonstige Zeichen den andern Menschen äußert, sondern nur dem offenbar ist, an den der Psalmist die Worte richtet: „Mein Seufzen ist vor dir nicht verborgen“, so werden von den kirchlichen Vorstehern mit gutem Grund Bußzeiten festgesetzt, damit so auch der Kirche Genugtuung geschehe, in der die Sünden nachgelassen werden. Denn außerhalb der Kirche gibt es ja keinen Sündennachlaß. Hat sie ja doch allein den Heiligen Geist in besonderer Weise als Pfand empfangen, ohne den keine Sünde so nachgelassen wird, daß diejenigen, denen sie nachgelassen wird, das ewige Leben erlangen.
 
 
66. Die Nachlassung der Sünden geschieht hauptsächlich mit Rücksicht auf das kommende Gericht. Für dieses Leben aber hat das Wort der Schrift: „Ein schweres Joch liegt auf den Kindern Adams vom Tage ihres Austrittes aus dem Schöße ihrer Mutter an bis zum Tage ihres Begräbnisses in die Mutter aller“, eine so weitgehende Geltung, daß, wie wir sehen, sogar die kleinen Kinder nach dem Bade der Wiedergeburt noch von verschiedenen Übeln schmerzlich betroffen werden. Daraus sollen wir erkennen, daß sich jede Wirkung der heilbringenden Sakramente mehr auf die zu erhoffenden künftigen Güter als auf die Bewahrung oder Erlangung der gegenwärtigen [zeitlichen] bezieht. – Allerdings scheint auch vieles hier auf Erden übersehen und mit keiner Strafe belegt zu werden; allein die Strafe hiefür wird für die Zukunft aufgespart und nicht umsonst heißt der Tag, an dem der Richter über die Lebendigen und die Toten kommen wird, Tag des Gerichtes im eigentlichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz dazu kommt hier auf Erden manches zur Bestrafung, das nach seiner Vergebung sicher im künftigen Leben nicht mehr schaden wird. Darum sagt der Apostel in bezug auf gewisse zeitliche Strafen, die hienieden den Sündern auferlegt werden, damit sie jenen, deren Sündenschuld auf diese Weise getilgt wird, nicht für das Ende aufbewahrt bleiben: „Wenn wir uns selbst richteten, dann würden wir vom Herrn nicht gerichtet werden; werden wir aber von ihm gerichtet [d.h. mit zeitlichen Strafen gezüchtigt], so geschieht es, damit wir uns bekehren und nicht mit dieser [ungläubigen] Welt [ewig] verdammt werden.“
 
Kapitel XVIII.
 
67. Es gibt nun aber auch Leute, die glauben, solche, die nur vom Namen Christi nicht abfallen, die nur in seiner Kirche im Bade [der Wiedergeburt] getauft und durch keine Trennung und keine Irrlehre von dieser Kirche abgeschnitten werden, könnten in den denkbar größten Sünden dahinleben, ohne diese Sünden durch Reue auszulöschen oder durch Almosen wieder gut zu machen, und sie könnten darin bis zum letzten Augenblick ihres Lebens hartnäckig verharren; sie könnten eben dann doch noch gerettet werden durch Feuer; und zwar würden solche Menschen allerdings je nach der Größe ihrer Sünden und Verbrechen mit einem langen, aber keineswegs ewig dauernden Feuer bestraft. Wer jedoch einen solchen Glauben hegt und dabei doch katholisch ist, der läßt sich meiner Ansicht nach durch ein gewisses menschliches Mitgefühl beirren. Ziehen wir nämlich die Heilige Schrift zu Rate, so erhalten wir eine ganz andere Antwort. Übrigens habe ich über diese Frage ein besonderes Buch unter dem Titel „Vom Glauben und von den Werken“ geschrieben. Darin habe ich, soweit ich es mit Gottes Hilfe vermochte, aus der Heiligen Schrift nachgewiesen, daß der rechtfertigende Glaube vom Apostel Paulus deutlich genug in den Worten ausgesprochen ist: „In Christus Jesus gilt weder die Beschneidung etwas, noch auch die Unbeschnittenheit, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist.“ Ein Glaube jedoch, der Böses und nichts Gutes wirkt, ist ohne Zweifel nach dem Apostel Jakobus „in sich selbst tot“. Derselbe Apostel spricht ferner: „Wenn einer sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke, kann ihn da wohl der Glaube retten?“ Wenn aber nun ein verbrecherischer Mensch nur wegen seines Glaubens durch Feuer gerettet würde und wenn das Wort des heiligen Paulus: „Er wird zwar gerettet werden, aber so wie durch Feuer “ in diesem Sinne zu verstehen wäre, dann würde ja der Glaube ohne Werke selig machen können und das, was Jakobus, der Mitapostel des heiligen Paulus, sagt, wäre falsch. Falsch wäre dann sogar auch, was der nämliche Apostel Paulus selbst sagt: „Täuscht euch nicht! Weder Schamlose noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, noch Knabenschänder, weder Diebe noch Habsüchtige, weder Trunkenbolde noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes besitzen.“ Denn wenn sie trotz ihres Verharrens in diesen Verbrechen dennoch durch den Glauben an Christus selig würden, wie könnten sie da vom Reiche Gottes ausgeschlossen sein?
 
 
68. Weil aber diese ganz klaren und deutlichen Zeugnisse der Apostel nicht falsch sein können, so muß jene dunkle Schriftstelle, die von denen handelt, die auf dem Fundament, welches Christus ist, nicht Gold, Silber und kostbare Steine, sondern Holz, Heu und Stoppeln aufbauen – denn von solchen Leuten heißt es, sie würden durch Feuer gerettet, da sie kraft des Verdienstes ihres Fundamentes nicht zugrunde gehen –, so verstanden werden, daß sich in den obigen klaren Aussprüchen nicht widersprechender Sinn ergibt. Unter dem Holz, dem Heu und den Stoppeln kann man sich wohl nicht mit Unrecht so heftige Begierden nach irdischen, an sich erlaubten Dingen denken, daß man ihren Verlust nicht ohne Schmerz ertragen könnte. Da aber dieser Schmerz brennt, so wird der davon gebrannte Mensch durch dieses Feuer gerettet, wenn in seinem Herzen Christus so die Stelle des Fundamentes einnimmt, daß ihm nichts vorgezogen und lieber diese so hoch geschätzten Güter als Christus aufgegeben werden. Wenn hingegen der Mensch zur Zeit der Versuchung lieber an solchen zeitlichen und irdischen Dingen als an Christus festhalten will, so hat er ihn eben nicht zum Fundament gehabt, weil er jenen Dingen den ersten Platz anwies, bei einem Gebäude aber das Fundament die Hauptsache sein muß. Das Feuer, von dem der Apostel an unserer Stelle geredet hat, muß nämlich in dem Sinne aufgefaßt werden, daß beide durch dasselbe hindurch gehen müssen, sowohl die, welche auf diesem Fundament Gold, Silber und kostbare Steine, als auch die, welche Holz, Heu und Stoppeln aufbauten. Der Apostel fährt nämlich nach jenem Worte also fort: „Die Beschaffenheit eines jeden Werkes wird das Feuer erproben. Bleibt das Werk, das jemand [auf das Fundament] erbaut hat, bestehen, so wird [der Meister] belohnt werden; der aber, dessen Werk verbrennt, der wird den Schaden davon haben. Er selbst wird zwar gerettet werden, jedoch wie durch Feuer.“ Das Feuer wird also nicht bloß das Werk des einen Meisters, sondern das beider Meister erproben. – Ein Feuer ist auch die Prüfung durch Trübsal, wie deutlich an einer anderen Stelle geschrieben steht: „Die Gefäße des Töpfers prüft der Ofen; die gerechten Menschen aber die Versuchung durch Trübsal.“ Jenes Feuer der Trübsal bringt übrigens schon in diesem Leben die vom Apostel bezeichnete Wirkung hervor; nämlich dann, wenn von zwei davon betroffenen Gläubigen der eine an das denkt, was Gottes ist, d.h. wie er Gott gefalle – dieser baut also auf Christus als auf das Fundament Gold, Silber und kostbare Steine auf –, während der andere das denkt, was der Welt ist, wie er seinem Weibe gefalle – dieser baut also auf dasselbe Fundament nur Holz, Heu und Stoppeln auf. Das Werk des ersteren verbrennt nicht, weil er die Güter, deren Verlust er schmerzlich empfindet, nicht geliebt hat; es verbrennt dagegen das Werk des letzteren, weil der Verlust dessen nicht schmerzlos ist, was man mit Liebe besessen hat. Allein selbst dieser wollte, vor die Wahl gestellt, lieber die irdischen Güter als Christus verlieren, und so groß auch sein Schmerz bei ihrem Verlust ist, so läßt er doch nicht von Christus ab aus Furcht vor einem solchen Verlust. Darum wird er zwar gerettet, doch so wie durch Feuer; denn ihn brennt der Schmerz über den Verlust der geliebten Güter. Doch vernichtet und verzehrt ihn der Schmerz nicht, weil er durch die Festigkeit und die Unzerstörbarkeit seines Fundamentes [Christus] gesichert ist.
 
69. Daß etwas Derartiges auch nach diesem Leben geschieht, ist nicht unglaublich; es läßt sich die Frage schon aufwerfen – vielleicht wird sie gelöst, vielleicht bleibt sie ungelöst –, ob eine Anzahl von Gläubigen durch eine Art von Fegefeuer gerettet wird, und zwar schneller oder langsamer, je nachdem sie die mehr oder weniger vergänglichen Güter geliebt haben. Natürlich kommen dabei keine solchen Menschen in Frage, von denen es heißt: „Sie werden das Reich Gottes nicht besitzen“, wenn sie nicht auf Grund einer entsprechenden Buße Nachlaß für diese schweren Vergehen erhalten. Ich habe aber absichtlich gesagt: „auf Grund einer entsprechenden Buße“, weil solche Leute nicht unfruchtbar im Almosengeben sein dürfen. Dieser Tugend schreibt ja die Heilige Schrift eine solche Kraft zu, daß der Herr nach seiner eigenen Voraussage den zu seiner Rechten Stehenden nur die Fruchtbarkeit im Almosengeben, den zu seiner Linken Stehenden aber gerade die Unfruchtbarkeit hierin anrechnen wird; denn zu den ersteren wird er sagen: „Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget das Reich!“, zu den letzteren aber: „Fort mit euch in das ewige Feuer!“