Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.   

 Kapitel XIX.

 70. Trotzdem muß man sich aber vor der irrigen Meinung hüten, es könne einer jene abscheulichen Verbrechen, auf deren Verübung der Nichtbesitz des Reiches Gottes steht, täglich begehen, wenn man sie nur auch wiederum täglich durch Almosengeben sühne. Vor allem muß der Lebenswandel selbst gebessert und Gott durch das Almosen wegen der begangenen Sünden versöhnt werden, nicht aber darf man sich durch Almosen gewissermaßen einen Freibrief kaufen wollen, um nun ungestraft alle Zeit sündigen zu dürfen. Denn „keinem gibt Gott die Erlaubnis zum Sündigen“, wenn er auch um der Zerknirschung willen die bereits begangenen Sünden tilgt, falls die entsprechende Genugtuung nicht versäumt wird.
 
71. Für die alltäglichen kleinen und leichten Versündigungen indes, ohne die es in diesem Leben nun einmal nicht abgeht, leistet das tägliche Gebet der Gläubigen schon Genugtuung; denn diejenigen dürfen mit Recht sagen: „Vater unser, der du bist in dem Himmel“, die schon einem solchen Vater wiedergeboren sind aus dem Wasser und dem [Heiligen] Geiste. Dieses Gebet löscht die geringen, täglichen Sünden vollständig aus. Es löscht auch noch jene Sünden aus, von denen das bisher zwar in Lastern verbrachte, nunmehr aber durch Buße gebesserte Leben abläßt; nur muß man ebenso aufrichtig, wie man spricht: „Vergib uns unsere Schulden“ – und an solchen Schulden, die vergeben werden sollen, fehlt es ja nicht – auch die anderen Worte sprechen: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigem.“ Und wenn man wirklich diesen Worten entsprechend handelt [dann tritt sicher die Sündenvergebung ein]; denn auch das ist ein Almosen, wenn man dem um Verzeihung bittenden Mitmenschen vergibt.
 
72. Von allem, was aus verdienstlicher Barmherzigkeit geschieht, gilt darum das Wort des Herrn: „Gebt nur Almosen! Und siehe, alles ist euch rein.“ Es gibt aber nicht bloß der Almosen, der dem Hungrigen Speise, dem Durstigen Trank, dem Nackten Kleidung, dem Fremdling Herberge, dem Flüchtling eine Zuflucht, dem Kranken oder Eingekerkerten einen Besuch, dem Gefangenen Erlösung, dem Schwachen Stütze, dem Blinden Geleite, dem Traurigen Trost, dem Ungesunden Heilung, dem Irrenden Weisung, dem Zweifelnden Rat, kurz jedem Notleidenden das Notwendige zukommen läßt, sondern auch der gibt Almosen, der dem Fehlenden Verzeihung gewährt. Und wer denjenigen, über den er Gewalt hat, zwar mit Strafen bessert oder durch irgend welche Zuchtmittel im Zaume hält, ihm dabei aber die Sünde, durch die er Schaden erlitten hat oder beleidigt worden ist, von Herzen verzeiht oder für ihn betet, auf daß er Verzeihung finde: auch der gibt Almosen, und zwar nicht allein dadurch, daß er ihm verzeiht oder für ihn betet, sondern auch dadurch, daß er ihn züchtigt und heilsam bestraft; denn damit übt er ein Werk der Barmherzigkeit. Man kann nämlich auch wider den Willen der Menschen viel Gutes erweisen, wenn man auf ihren Nutzen, nicht aber auf ihren Willen schaut; gar mancher ist ja sein eigener Feind, während er dagegen diejenigen, die tatsächlich seine Freunde sind, für seine Feinde hält. Und in dieser irrigen Meinung vergilt er ihnen Gutes mit Bösem, während doch ein Christ nicht einmal Böses mit Bösem vergelten soll . Es gibt demnach viele Arten des Almosens, deren Übung uns zu unserer eigenen Sündenvergebung behilflich ist.
 
 
73. Doch gibt es kein höheres Almosen, als wenn wir von Herzen alles verzeihen, was jemand gegen uns gefehlt hat. Denn weniger groß ist es, gegen jemand wohlwollend oder auch wohltätig zu sein, der dir nichts Böses zugefügt hat. Viel edler aber ist es, und ein Zeichen einer ganz erhabenen Güte, wenn du auch deinen Feind liebst und wenn du ihm, der dir Übles will und nach Kräften auch zufügt, stets nur Gutes willst und nach Vermögen auch erweisest, gehorsam dem Worte Gottes: „Liebet euere Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen und betet für die, die euch verfolgen!“ Indes ist solche Tugend nur eine Gabe der vollkommenen Kinder Gottes, obgleich zwar jeder Gläubige nach dieser Vollkommenheit streben und seinen menschlichen Sinn durch vieles Gebet zu Gott und durch redliches Bemühen und Kämpfen mit sich selbst zu dieser Willensrichtung zu erheben trachten soll. Weil sonach jenes hohe Gut [der Feindesliebe] der großen Menge der Menschen abgeht, diese aber doch nach meiner Meinung Erhörung findet, wenn sie im Gebete des Herrn spricht: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, so ist doch das hierin gegebene gegenseitige Versprechen sicherlich erfüllt, wenn der Mensch, obwohl er noch nicht bis zur Feindesliebe vorgeschritten ist, doch wenigstens seinem Mitbruder verzeiht, sobald dieser ihn wegen seiner Beleidigung um Verzeihung bittet. Denn er selbst will ja auch durch sein eigenes Bitten Verzeihung erlangen, wenn er im Gebete spricht: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Es ist also, wie wenn er sagte: „Vergib uns auf unsere Bitten hin unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldigern auf ihre Bitten hin vergeben.“
 
74. Übrigens darf man einen, der im Gefühl seines sündhaften Tuns denjenigen, der er beleidigt hat, um Verzeihung bittet, schon nicht mehr als Feind erachten, und es darf uns nicht schwer fallen, so einen sogar zu lieben, wenn es uns vielleicht auch schwer gewesen wäre, solange er mit uns wirklich in Feindschaft war. Keiner aber, der seinem reumütig um Verzeihung bittenden Mitmenschen nicht von Herzen verzeiht, soll wähnen, es werde ihm vielleicht von Gott verziehen. Denn die [ewige] Wahrheit kann nicht lügen. Welchem Leser oder Hörer des Evangeliums wäre aber unbekannt, wer den Ausspruch getan hat: „Ich bin die Wahrheit“? Eben dieser nun hat zuerst das Gebet gelehrt, dann aber den darin liegenden Sinn aufs nachdrücklichste mit den Worten ans Herz gelegt: „Wenn ihr eueren Mitmenschen ihre Sünden vergebt, dann wird euch auch euer himmlischer Vater euere Sünden vergeben; vergebt ihr aber eueren Mitmenschen nicht, dann wird euch auch euer himmlischer Vater euere Sünden nicht vergeben.“ Wer bei einem solchen Donnerwort nicht aufwacht, der schläft nicht mehr bloß, nein, der ist schon tot. Übrigens wäre der himmlische Vater auch mächtig genug, selbst Tote wieder zum Leben zu erwecken.
 
Kapitel XX.
 
75. Wer indes ein ganz schlechtes Leben führt und sich auch nicht bemüht, ein Leben mit solchen Sitten zu bessern, wer aber dabei doch mitten in seinen schändlichen verbrechen nicht aufhört, fleißig Almosen zu geben, der schmeichelt sich ganz vergeblich, wenn er deshalb das Wort des Herrn auf sich anwenden möchte: „Gebt Almosen! Und siehe, alles ist euch rein.“ Denn so klar diese Worte auch sind, so fassen sie solche Leute doch nicht richtig auf. Damit dies aber geschehe, beachte so einer einmal, zu wem denn der Herrn eigentlich so gesprochen hat. Im Evangelium heißt es nämlich: „Wahrend er [Jesus] redete, bat ihn ein Pharisäer, er solle bei ihm das Frühmahl nehmen. Und er trat ein und ließ sich nieder. Der Pharisäer aber war darüber befremdet und sprach bei sich, warum er sich denn vor dem Essen nicht gewaschen habe. Der Herr aber sprach zu ihm: „Ihr Pharisäer reinigt jetzt die Außenseite des Bechers und der Schüssel; euer eigenes Innere aber ist voll von Raub und Schlechtigkeit. Ihr Toren, hat denn nicht der, welcher das Auswendige geschaffen hat, auch das Inwendige geschaffen? Jedoch, was übrig ist, das gebt als Almosen! Und siehe, alles ist euch reins.“ werden wir dies etwa so verstehen müssen, daß für die Pharisäer, die den Glauben an Christus nicht hatten, alles rein war, trotzdem sie nicht an ihn glaubten und nicht wiedergeboren waren aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste, wenn sie nur Almosen gaben in der Gesinnung, wie der oben Geschilderte sie beim Geben haben zu müssen glaubte? Es sind ja doch alle unrein, die der Glaube an Christus nicht reinigt, von dem geschrieben steht, „daß durch den Glauben [an ihn] ihr Herz gereinigt wird“, und von dem der Apostel sagt: „Den Befleckten und Ungläubigen ist jedoch nichts rein, sondern befleckt ist ihr Herz und ihr Gewissen.“ Wie könnte also den Pharisäern alles rein sein, wenn sie nur Almosen geben, dabei aber nicht gläubig sind? Oder wie könnten sie gläubig sein, wenn sie nicht an Christus glauben und nicht in seiner Gnade wiedergeboren werden wollten? Und doch bleibt das Wort wahr, das sie hörten: „Gebt Almosen! Und siehe, alles ist euch rein.“
 
 
76. Wer nämlich in geordneter Weise Almosen geben will, muß bei sich selbst den Anfang machen und solches zuerst sich selbst geben. Almosengeben ist nämlich ein Werk der Barmherzigkeit, und ganz wahr ist es auch, wenn es heißt: „Erbarme dich deiner Seele und du wirst Gott gefallen.“ Um Gott zu gefallen, werden wir wiedergeboren, dem mit Recht die Sünde mißfällt, die wir uns durch die Geburt zugezogen haben. Dies ist das erste Almosen, das wir uns gegeben haben, daß wir uns selbst in unserem Elend durch die Erbarmung des barmherzigen Gottes aufgesucht haben; denn wir haben sein Urteil als recht anerkannt, durch das wir elend geworden sind und von dem der Apostel sagt: „Wegen der einen Sünde [Adams] lautet sein Urteil auf Verdammnis“; und wir haben auch seiner großen Liebe gedankt, von der wiederum jener Herold der Gnade [der heilige Paulus] sagt: „Es bewährt aber Gott seine Liebe zu uns darin, daß, trotzdem wir noch Sünder waren, Christus für uns gestorben ist.“ Wir sollen nämlich auch selbst über unser Elend ein wahres Urteil fällen und Gott mit der Liebe, die er uns selbst eingegossen hat, lieben und demgemäß fromm und gerecht leben. Die Pharisäer nun kümmerten sich um ein solches Urteil und um eine solche Liebe nicht; sie bestimmten zwar den Zehnten sogar von den geringsten Feldfrüchten zu ihrem Almosen, sie fingen aber bei ihrem Almosengeben nicht bei sich selbst an und übten nicht zuerst an sich selbst Barmherzigkeit. Mit Rücksicht auf jene rechte Ordnung der Liebe heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Nachdem also Christus die Pharisäer getadelt hatte, weil sie sich bloß äußerlich wuschen, innerlich aber voll Raub und Schlechtigkeit waren, belehrte er sie zuerst darüber, daß das Innere durch eine Art Almosen gereinigt werde, das der Mensch vor allen Dingen sich selbst schulde: „Was aber übrig ist, das gebt als Almosen, und alles ist euch rein.“ Um ihnen aber dann zu zeigen, was er mit dieser Lehre wolle, worum sie sich selbst aber nicht kümmerten, und damit sie nicht glaubten, er kenne ihr Almosen nicht, sprach er das Fluchwort: „Wehe euch, ihr Pharisäer!“ Damit wollte er ihnen gleichsam sagen: „Ich habe euch nun zwar ermahnt, Almosen zu geben, auf daß euch dadurch alles rein werde. Aber wehe euch! Ihr verzehntet ja wohl die Minze und die Raute und alles Kraut; diese Art eueres Almosens kenne ich gar gut und ihr dürft nicht glauben, ich wolle euch jetzt hierüber noch belehren; aber an dem Rechte und an der Liebe Gottes geht ihr vorbei.“ Und doch wäre nur das wirklich ein Almosen, wodurch ihr von jeder inneren Befleckung rein werden könnt; dadurch würde euer Leib wirklich rein, den ihr wascht. Dieses Doppelte ist nämlich unter dem Worte „alles“ zu verstehen: das Innere und das Äußere. In diesem Sinne liest man an einer anderen Stelle: „Reinigt nur einmal, was inwendig ist, dann wird auch das, was auswendig ist, rein sein!“ Damit nun aber die Pharisäer nicht meinen möchten, er habe damit das Almosen verworfen, das von den Früchten der Erde gespendet wird, sprach er zu ihnen: „Das eine hättet ihr tun, das andere aber nicht lassen sollen“; d.h. das Gericht und die Liebe Gottes hättet ihr im Auge behalten und dabei auch von den Früchten der Erde Almosen geben sollen.
 
77. Es sollen sich also diejenigen nicht täuschen, die meinen, sie könnten sich durch ein noch so reichliches Almosen an Früchten oder Geld Straflösigkeit für ihr Verharren im Gräuel ihrer Sünden und in ihren Schandtaten erkaufen. Dergleichen böse Taten vollbringen sie wirklich; und dazu lieben sie ihre Sünden auch noch so sehr, daß sie immerdar darin zu verharren wünschten, wenn es nur ohne Strafe geschehen könnte. „Wer aber Unrecht liebt, der haßt seine Seele“, und wer seine Seele haßt, der ist nicht barmherzig gegen sie, sondern grausam; denn die Seele lieben nach dem Geiste der Welt, heißt sie hassen nach dem Geiste Gottes. Wollte einer seiner Seele Almosen geben, so daß ihr alles rein wäre, der müßte sie hassen nach dem Geiste der Welt, sie aber lieben nach dem Geiste Gottes. Es gibt aber keiner auch nur das kleinste Almosen, es sei denn, daß er die Mittel hiezu von dem empfängt, der an nichts Mangel hat. In diesem Sinne steht geschrieben: „Seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen.“