Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.   

 Kapitel XXI.

 78. Welche Sünden aber leicht und welche schwer sind, das läßt sich durch kein menschliches, sondern nur durch ein göttliches Gericht abwägen. So sehen wir, daß sogar von den Aposteln gar manches nachsichtig gestattet worden ist [was sonst als Sünde gilt]; so z.B. wenn der ehrwürdige [Apostel] Paulus zu den Ehegatten spricht: „Entziehet euch einander nicht, es sei denn nach Übereinkunft für kurze Zeit, um desto ungestörter dem Gebete obliegen zu können; dann aber kommt wieder zusammen, damit euch Satan nicht versuche, wenn ihr euch nicht [lange] enthalten könnt2 .“ Demnach könnte man meinen, es sei keine Sünde, dem Ehegatten beizuwohnen, nicht zum Zwecke der Kindererzeugung, was ja ein eheliches Gut ist, sondern selbst aus Fleischeslust, [wenn es nur geschehe] mit der Absicht, auf daß die Schwäche der Unenthaltsamen auf diese Weise die todbringende Sünde der Hurerei oder des Ehebruches oder jener anderen Art von Unreinheit vermeide, deren bloße Nennung schon schändlich ist, wozu sich aber der begehrliche Sinn [der Menschen] durch die Versuchung des Satans nur zu gerne verleiten läßt. Wie gesagt, man könnte jenen Ausspruch so auffassen, als sei es keine Sünde; es hat jedoch der Apostel noch hinzugefügt: „Dies sage ich aber nur als ein Zugeständnis, keineswegs als Befehl.“ Wer möchte nunmehr noch leugnen, daß [geschlechtlicher Verkehr] an sich Sünde ist? Muß er ja doch zugestehen, daß kraft apostolischer Machtvollkommenheit denen, die so handeln, nur ein Zugeständnis gemacht worden ist. – Noch von einem anderen Fall spricht der Apostel: „Wagt es einer von euch, einen Rechtsstreit gegen seinen Mitbruder zu haben und diesen dann noch dazu vor einem ungerechten [heidnischen] Richter und nicht vor einem gläubigen [christlichen] entscheiden zu lassen?“ Kurz darauf [fährt Paulus dann fort]: „Habt ihr nun bloß weltliche Streithändel, so ruft nur die [ersten besten, auch die] niedrigsten Gemeindemitglieder als Richter auf! Zu euerer Beschämung sage ich es: Ist denn keiner von euch verständig genug, um unter Brüdern Streitigkeiten schlichten zu können? Muß denn der Bruder mit dem Bruder Prozesse führen und noch dazu vor Ungläubigen?" Auch hier könnte man glauben, es sei keine Sünde, überhaupt einen Prozeß mit seinem Mitmenschen zu haben, sondern Sünde sei nur dessen Austragung außerhalb der Kirche. Doch fügt der Apostel gleich noch weiter hinzu: „Schon das ist ein Mangel, daß ihr überhaupt Streitigkeiten miteinander habt.“ Und damit sich nicht vielleicht jemand damit entschuldige, daß er sagt, seine Sache sei ja eine gerechte und er wolle durch die Anrufung des richterlichen Beistandes ja nur das Unrecht abwehren, das er erleiden müsse, so tritt Paulus derartigen Gedanken und Entschuldigungen sofort mit den Worten entgegen: „Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht; warum laßt ihr euch nicht lieber übervorteilen?“ Damit kommt er auf das Wort des Herrn zurück: „Wenn dir jemand deinen Rock nehmen und um ihn vor Gericht mit dir streiten will, so laß ihm auch noch den Mantel “, und auf jenes andere: „Von demjenigen, der dir das Deinige nimmt, fordere es nicht zurück!“ Der Herr hat es also den Seinigen verboten, um weltliche Dinge mit anderen Menschen einen Rechtsstreit zu führen, und auf Grund dieser Lehre bezeichnet der Apostel derartiges als Mangel. Da er indes zuläßt, daß in der Kirche solche Rechtshändel unter Brüdern ausgemacht werden, falls Brüder dabei die Richter sind, während er solche Händel außerhalb der Kirche aufs ernstlichste verbietet, so ist ganz klar, wie weit auch in diesem Falle das Zugeständnis an die Schwäche geht. Wegen solcher und ähnlicher Sünden und wegen anderer Wort- und Gedankensünden, die vielleicht noch kleiner sind – sagt ja doch der Apostel Jakobus ganz offen: „In vielen Dingen verfehlen wir uns alle“ –, müssen wir täglich und häufig Gott mit der Bitte anrufen: „Vergib uns unsere Schulden“, dürfen Gott aber auch nicht in dem anlügen, was gleich darauf folgt: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
 
 
79. Es gibt aber auch einige Sünden, die man für ganz leicht halten könnte, bewiese nicht die Heilige Schrift, daß sie schwerere Sünden sind, als man meint. Denn wer möchte wohl glauben, daß einer, der zu seinem Bruder sagt: „Du Narr!“ der Hölle schuldig sei, wenn es nicht die [ewige] Wahrheit sagte?“ Übrigens hat sie für diese Wunde auch gleich das Heilmittel gegeben indem sie das Gebot der brüderlichen Wiederversöhnung hinzufügt. Denn gleich darauf heißt es: „Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat so usw..“ Oder wer dächte daran, was für eine Sünde dann liegt, läge zu beobachten und Monate und Jahre und Zeiten, so wie es diejenigen machen, die nur zu ganz bestimmten Tagen, Monaten oder Jahren etwas anfangen oder nicht anfagen wollen, weil sie nach eitler Menschenmeinung gewisse Zeiten für glück- oder unglückbringend ansehen. Und doch können wir die Größe dieser Sünde aus der Furcht des Apostels abnehmen, der zu solchen Menschen spricht: „Da muß ich allerdings besorgen, mich vergeblich um euch abgemüht zu haben.“
 
80. Dazu kommt dann noch, daß an sich große und schreckliche Sünden nur mehr für kleine oder gleich für gar keine Sünden mehr gehalten werden, wenn sie einmal zur Gewohnheit geworden sind. Und das kann soweit gehen, daß man es gar nicht mehr für notwendig hält, sie geheim zu halten, sondern sie sogar noch weitererzählen und ausbreiten zu dürfen glaubt, weil sich ja, wie geschrieben steht, „der Sünder der Lüste seines Herzens rühmt und der Übeltäter sich glücklich preist“. Eine derartige Ruchlosigkeit wird in der Heiligen Schrift mit dem Worte „Geschrei“ bezeichnet. So heißt es beim Propheten Isaias von dem schlechten Weinberg: „Ich hoffte, daß er Recht übte, aber er übte Unrecht; nicht Gerechtigkeit [übte er], sondern [er erhob] Geschrei.“ In demselben Sinn heißt es in der Genesis: „Das Geschrei von Sodoma und Gomorrha ist groß geworden,“ weil die Bewohner dieser Städte nicht nur an sich jene berüchtigten Schandtaten nicht straften, sondern sie sogar öffentlich, gleichsam wie gesetzlich erlaubte Taten, zu üben pflegten. Ebenso sind auch heutzutage gar viele, wenn auch nicht gerade derartig abscheuliche Sünden schon so sehr zur offenen Gewohnheit geworden, daß wir aus diesem Grund keinen Kleriker mehr zu degradieren und erst recht keinen Laien mehr zu exkommunizieren wagen dürfen. So mußte ich selbst vor etlichen Jahren bei der Auslegung des Galaterbriefes an der Stelle, wo der Apostel sagt: „Da muß ich allerdings besorgen, mich vergeblich um auch abgemüht zu haben“, ausrufen: „Wehe über die Sünden der Menschen, die wir bloß mehr dann verabscheuen, wenn sie uns noch ungewohnt sind; sind aber diese Sünden, für deren Austilgung das Blut des Sohnes Gottes geflossen ist, einmal zur öffentlichen Gewohnheit geworden, so müssen wir nur zu häufig einfach ruhig zusehen und sie geschehen lassen, selbst wenn sich das Reich Gottes wegen ihrer Bosheit unbedingt vor ihnen verschließt, ja manche dadurch, daß wir sie geschehen lassen, geradezu selbst tun!“ O Gott, möchten doch nicht alle Sünden, die wir nicht verhindern konnten, unsere eigene Tat sein! Doch es wird sich ja einst zeigen, ob mich vielleicht ein unmäßiger Schmerz etwa zu irgendeiner Übertreibung hingerissen hat.
 
 
Kapitel XXII.
 
81. Nunmehr will ich etwas besprechen, was ich freilich schon wiederholt an anderen Stellen meiner kleineren Schriften erörtert habe. Zwei Gründe gibt es, warum wir in Sünde fallen: entweder weil wir nicht erkennen, was wir zu tun haben, oder weil wir das nicht tun was, wie wir wohl erkennen, eigentlich geschehen müßte. Im ersten Fall leiden wir unter dem Übel der Unwissenheit, im zweiten unter dem der Schwäche. Gegen beide Übel sollten wir nun freilich kämpfen; indes werden doch ganz sicherlich wir die Unterlegenen sein, wenn wir nicht bei Gott Unterstützung finden. Dann aber [mit seiner Hilfe] werden wir erkennen, was wir tun müssen, und dann wird mit der richtigen Erkenntnis das Streben nach Gerechtigkeit in uns das Streben nach jenen Dingen besiegen, die uns trotz besserer Einsicht doch dadurch zur Sünde veranlassen, daß wir ihren Besitz wünschen und ihren Verlust fürchten. Sündigen wir im letzteren Falle, dann sind wir nicht allein Sünder schlechthin, was wir ja auch schon waren, als wir bloß aus Unwissenheit sündigten, sondern wir sind dann bewußte Übertreter des Gesetzes; denn wir unterlassen das, wovon wir doch wissen, daß es geschehen muß oder wir tun das, wovon wir doch wissen, daß wir es nicht tun dürfen. Darum müssen wir nicht bloß, wenn wir schon gesündigt haben, in der Hoffnung auf Verzeihung beten: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!, sondern um überhaupt nicht in Sünde zu fallen, sollen wir beten daß er unser Führer sei. Darum sprechen wir: „Und führe uns nicht in Versuchung!“ In solcher Absicht müssen wir unser Gebet an den richten, dem das Psalmwort gilt: „Der Herr ist meine Erleuchtung und mein Heil“, auf daß seine Erleuchtung unsere Unwissenheit und sein Heil unsere Schwäche hinwegneme.
 
82 Aber auch die Buße, zu deren zeitweiliger Übung nach dem Gebrauche der Kirche ein gerechter Grund vorliegt, wird meist aus Schwachheit nicht geübt; denn auch die Scham [die uns von der Buße abhält] ist ja nur Furcht, Missfallen zu erregen; man schaut eben mehr auf Ansehen bei Mitmenschen als auf Gerechtigkeit, um deretwillen man sich in einer Bußübung verdemütigt. Darum braucht es die Barmherzigkeit Gottes nicht nur, wenn wir schon Buße üben, sondern auch dazu, daß man sich überhaupt zu ihrer Übung aufrafft. Sonst würde ja auch der Apostel nicht von gewissen Leuten sagen: „ ... ob ihnen vielleicht Gott Bußgesinnung verleiht.“ Und damit Petrus bittere Tränen [der Reue] vergießen konnte, mußte ihn, wie der Apostel vorausschickt, der Herr [zuerst] anblicken.
 
83. Wer jedoch nicht an die Sündennachlassung in der Kirche glaubt und darum einen so reichen göttlichen Gnadenschatz verachten zu dürfen glaubt,, und wer dann in solcher Herzensverhärtung sein Leben beschließt, der ist schuldig jener unvergebbaren Sünde wider den Heiligen Geist, in dem Christus die Sünden nachläßt. Über diese schwierige Frage habe ich mich so deutlich ich nur konnte, in einem Büchlein verbreitet, das ich eigens zu diesem Zwecke verfaßt habe.