Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.  

 Kapitel XXIX.

 109. Während der Zeit jedoch zwischen dem Tode des Menschen und seiner letzten Auferstehung befinden sich die Seelen an verborgenen Aufenthaltsorten, je nachdem eine der Ruhe oder der Strafe würdig ist, d.h. je nach dem, was sie sich während ihres Lebens im Fleische verdient hat.
 
110. Dabei darf nicht in Abrede gestellt werden, daß die Seelen der Abgestorbenen dank der Frömmigkeit ihrer noch lebenden Angehörigen Erleichterung finden, wenn für sie das Opfer des Mittlers dargebracht oder Almosen in der Kirche gespendet wird. Aber nur solche haben davon Nutzen, die es während ihres Lebens verdient haben, daß es ihnen später einmal nutzen kann. Es gibt nämlich eine Art zu leben, die nicht so gut ist, daß sie eine solche Hilfe nach dem Tode nicht brauchte, die aber doch auch nicht so schlecht ist, daß eine solche Hilfe nach dem Tode nicht mehr helfen könnte. Es gibt ferner eine so gute Art zu leben, daß es dergleichen Hilfe gar nicht mehr bedarf, und es gibt hinwiederum eine so schlechte Art zu leben, daß nach dem Hinscheiden aus diesem Leben eine Hilfe gar nicht mehr möglich ist. Somit wird alles Verdienst, das jemandem nach diesem Leben zur Erleichterung oder zur Belastung gereichen kann, schon hier auf Erden erworben. Niemand aber soll sich der Täuschung hingeben, es werde ihm das, was er auf Erden verabsäumt, bei seinem Tode von Gott als Verdienst zugeteilt werden. Es verstößt also auch das, was die Kirche zum Trost der Verstorbenen zu tun pflegt, nicht gegen den apostolischen Ausspruch: „Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen, damit ein jeder, je nachdem er in seinem Leben Gutes oder Böses getan hat, darnach empfange.“ Denn schon [die Gnade], daß er von jenen [nach seinem Tode für ihn aufgeopferten guten Werken] einen Nutzen hat, muß sich einer verdienen, solange er noch in seinem Leibe lebt. Es haben auch wirklich nicht alle Menschen einen Nutzen [von jenen guten Werken]. Und warum nicht? Weil auch das Leben verschieden war, das ein jeder auf Erden führte. Wird also das Opfer des Altares oder irgendeines Almosens für alle verstorbenen Getauften dargebracht, so bedeutet es für die sehr guten Christen ein Dankopfer, für die nicht gerade sehr schlechten ein Sühneopfer, für die sehr schlechten allerdings kein Hilfsmittel für die Toten, aber immerhin einen gewissen Trost für die Lebendigen. Wem jenes Opfer aber überhaupt einmal nützt, dem nützt es so, daß entweder die Verzeihung eine vollständige oder gar die Verdammnis selbst eine erträglichere wird.
 
 
111. Wenn dann nach der Auferstehung das allgemeine Gericht gehalten und sein Urteil vollstreckt ist, so werden die beiden Reiche, sowohl das Christi als das des Teufels, ihr eigenes [abgegrenztes] Gebiet haben. Das eine ist dann ein Reich der Guten, das andere ein Reich der Bösen, ein jedes aber ein Reich von Engeln und Menschen. Die einen haben dann nicht mehr den Willen, die anderen nicht mehr die Fähigkeit, irgendwie zu sündigen; jede Möglichkeit zu sterben ist dann dahin. Die einen leben im ewigen Leben ein wahres, glückliches Leben, die anderen bleiben unglückselig im ewigen Tode, ohne die Möglichkeit zu sterben: für beide gibt es kein Ende mehr. In der Seligkeit wird der eine Selige vor dem andern einen Vorzug haben; im Elend [der Verdammnis] wird es dem einen Verdammten erträglicher sein als dem andern.
 
112. Es ist also ganz umsonst, wenn sich manche oder vielmehr sehr viele Leute einem menschlichen Gefühl des Mitleides über die ewige Strafe der Verdammten und über ihre ununterbrochene, immerwährende Pein hingeben und nicht glauben wollen, daß es einst so sein wird. Diese Leute wollen allerdings nicht der Heiligen Schrift widersprechen, sondern nur ihrer Gefühlsregung entsprechend alles das, was, wie sie meinen, in der Heiligen Schrift mehr furchtbar als der Wahrheit entsprechend berichtet ist, abschwächen und nach einer milderen Auffassung deuten. Sie weisen hin auf das Schriftwort: „Gott vergisst nicht sein Erbarmen, und in seinem Zorn wird er den Lauf seiner Barmherzigkeit nicht aufhalten.“. Das steht zwar in einem heiligen Psalm, ist aber ohne jedes Bedenken von denen zu verstehen, die „Gefäße der Barmherzigkeit“ genannt werden, weil auch sie nicht dank ihrer Verdienste, sondern nach der Erbarmung Gottes von ihrem Elend befreit werden. Aber wenn man es auch von allen Menschen gelten lassen wollte, so braucht man deshalb doch noch nicht der Meinung zu sein, als könne es für die Verdammnis derer ein Ende geben, von denen es heißt: „ ... und so werden diese in die ewige Pein eingehen.“ Denn man müßte sonst ja auch annehmen, es werde auch das Glück derer einmal ein Ende nehmen, von denen es andererseits heißt: “ ... die Gerechten aber ins ewige Leben“. Daß dagegen die Strafe der Verdammten zeitweise etwas gemildert wird, das mögen sie, wenn sie wollen, immerhin annehmen. Daß nämlich auf den Verdammten der Zorn Gottes lasten bleibt, d.h. die Verdammnis selbst – denn das versteht man doch unter dem Zorn Gottes und nicht eine Aufregung seines Gemütes –, das kann man doch auch so auffassen, daß er auch in seinem Zorn, d.h. während seines Zornes, trotzdem auch seine Barmherzigkeit nicht zurückhält, so nämlich, daß er zwar der ewigen Pein kein Ende macht, wohl aber doch die Qualen zeitweise lindert oder unterbricht. Denn auch der oben erwähnte Psalm sagt ja nicht: [Er wird seine Barmherzigkeit zurückhalten] „zur Beendigung seines Zornes“ oder „nach seinem Zorn“, sondern „in seinem Zorn“. Bestände aber auch nur dieser Zorn allein, und zwar in dem geringsten Maß, das sich bei Gott nur denken läßt: der Verlust des Reiches Gottes, die Verbannung aus dem Reiche Gottes, die Entfernung aus dem Leben Gottes, die Entbehrung jener gewaltigen Fülle der Süßigkeit Gottes, die er denen aufbewahrt hat, die ihn fürchten, und die er an denen erzeigt, die auf ihn hoffen so ist das doch eine so schwere Strafe, daß sich damit, falls sie ewig dauern soll, keine der uns bekannten Qualen vergleichen läßt und wenn sie auch noch so lange währen mag.
 
113. Endlos wird also jener ewige Tod der Verdammten, d.h. ihre Entfernung aus dem Leben Gottes dauern, und darin wird die allen Verdammten gemeinsame Strafe bestehen, was auch die Menschen, geleitet von ihren menschlichen Gefühlen, über die Mannigfaltigkeit der Strafen oder über die Milderung oder Unterbrechung der Schmerzen sonst noch mutmaßen mögen. Geradeso wird auch das ewige Leben aller Heiligen eine gemeinsame ewige Dauer haben, so verschieden auch die Ehrenstufen sein mögen, in denen sie in Eintracht dort leuchten.
 
 
Kapitel XXX.
 
114. Aus diesem Glaubensbekenntnis, das im [apostolischen] Symbolum kurz zusammengefaßt ist und das dem fleischlichen Denken Milch für die Kleinen, der geistigen Betrachtung und Erforschung aber Speise für die Starken ist, erwächst die beseligende Hoffnung der Gläubigen, deren Begleiterin hinwiederum die heilige Liebe ist. Allein von all den Lehren, die wir mit gläubiger Gesinnung für wahr zu halten haben, bezieht sich nur das auf die Hoffnung, was in dem Gebet des Herrn enthalten ist. Denn verflucht ist nach dem Zeugnis des göttlichen Wortes ein jeder, der seine Hoffnung auf einen Menschen setzt. Demnach wird aber auch jeder in diesen Fluch verwickelt, der seine Hoffnung auf sich selber baut. Wir dürfen darum nur allein von Gott all das erbitten, was wir Gutes zu tun oder als Lohn für gute Werke zu erlangen hoffen.
 
115. Beim Evangelisten Matthäus nun umfaßt, wie wir sehen, das Gebet des Herrn sieben Bitten, von denen drei um etwas Ewiges, die anderen vier aber um etwas Zeitliches, zur Erreichung des Ewigen aber immerhin auch Notwendiges flehen. Denn wenn wir sprechen: „Geheiliget werde dein Name, zu uns komme dein Reich, dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden“ – letzteres haben einige gar nicht unpassend mit Geist und Leib erklärt –, so gilt das für alle Zeiten; und zwar nimmt es hier auf Erden seinen Anfang, wächst je nach unserem inneren Fortschritt und geht dann in seiner Vollendung, wie wir im anderen Leben erwarten dürfen, in unsern dauernden Besitz über. Wenn wir aber sprechen: „Gib uns heute unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel“, wer sähe da nicht ein, daß sich dies auf die Armseligkeit dieses gegenwärtigen Lebens bezieht? In jenem ewigen Leben, wo wir einstens immer zu sein hoffen, wird also die Heiligung des Namens Gottes, sein Reich und sein Wille in unserem. Geist und in unserem Leib vollkommen und ohne Ende fortbestehen. Von dem täglichen Brot ist aber [im Vaterunser] deshalb die Rede, weil es hienieden für Seele und Leib notwendig ist, mag man es nun geistig oder leiblich oder aber auch gleich in dem doppelten Sinn verstehen. Um hienieden handelt es sich auch, wenn wir um Sündenvergebung flehen; denn hienieden werden die Sünden ja auch begangen. Um hienieden handelt es sich sodann auch bei den Versuchungen, die uns zur Sünde reizen und drängen; um hienieden schließlich auch bei dem Übel, von dem wir frei zu werden wünschen: dort oben [im Himmel] aber gibt es keine von diesen Bedrängnissen. 
 
116. Der Evangelist Lukas seinerseits hat die Bitten des Gebetes des Herrn nicht in sieben, sondern nur in fünf zusammengefaßt. Trotzdem aber hat er sich damit nicht in Gegensatz zu Matthäus gesetzt, sondern gerade durch seine knappe Fassung gezeigt, wie die sieben Bitten bei diesem zu verstehen sind; denn der Name Gottes wird ja doch im Geiste geheiligt, sein Reich aber wird bei der Auferstehung des Fleisches kommen. Lukas hilft also durch Weglassung der dritten Bitte zu einem besseren Verständnis, indem er zeigt, daß sie gewissermaßen nur die Wiederholung der beiden vorausgehenden bildet. Daran reiht er sodann drei weitere Bitten, nämlich die Bitte ums tägliche Brot, um Vergebung der Sünden und um Widerstandskraft in der Versuchung. Die Bitte aber, die Matthäus an letzter Stelle anführt: „Sondern erlöse uns von dem Übel“, findet sich bei Lukas überhaupt nicht, damit wir sehen, sie sei schon in der vorausgehenden Bitte von der Versuchung enthalten. Darum sagt auch Matthäus: „s o n d e r n erlöse uns“ und nicht „u n d erlöse uns“, womit er uns zeigt, daß die sechste und siebte Bitte eigentlich nur eine Bitte sind: Gib uns nicht dies, sondern das! Es soll eben jedermann daraus erkennen, daß die Erlösung von dem Übel für ihn darin besteht, daß er nicht in Versuchung gerät.