Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.

 Kapitel V.

 16. So verhält sich das. Wenn uns nun auch der Vers Virgils durchaus zusagt: „Glücklich der, dem es gegeben ward, die Ursachen der Dinge zu ergründen“, so dürfen wir doch nicht zu glauben, es sei zur Erreichung des Glückes notwendig, daß wir die im geheimsten Innern der Natur verborgenen Ursachen jener großen Vorgänge in der Körperwelt kennen, daß wir z. B. wissen: „Welche Gewalt die Länder erschüttert, die Meere hoch aufwühlt, ohne ein Hemmnis zu achten, und bald sie wieder beschwichtigt“, und anderes von der Art. Doch die Ursachen des Guten und des Bösen sollen wir kennen, und zwar insoweit, als deren Kenntnis dem Menschen in diesem Leben voll Irrtum und Elend zur Vermeidung eben dieses Irrtums und Elendes vergönnt ist. Nach jenem Glück müssen wir nämlich trachten, wo uns kein Elend mehr bedrückt und kein Irrtum mehr täuscht. Müßten wir nämlich die Ursachen der körperlichen Vorgänge kennen, dann brauchten wir doch gewiß keine mehr zu kennen als die unserer Gesundheitsverhältnisse. Da wir aber darüber ohne Kenntnisse sind, so müssen wir uns an die Ärzte wenden. Wer möchte demnach nicht einsehen, daß wir uns mit großer Geduld darein finden müssen, all das nicht zu wissen, was uns von den Geheimnissen des Himmels und der Erde verborgen ist?
 
17. Wir müssen uns zwar mit so großer Sorgfalt als uns möglich ist, vor dem Irrtum im großen wie im kleinen hüten; daraus und obwohl ein Irrtum nur aus Unkenntnis der Verhältnisse möglich ist, folgt aber doch noch nicht, daß einer, sobald er bloß einmal etwas nicht weiß, auch schon in einen Irrtum verwickelt ist; vielmehr irrt nur der, welcher etwas zu wissen vermeint, was er in Wirklichkeit nicht weiß; so einer erachtet nämlich etwas Falsches für wahr und darin liegt gerade das Wesentliche des Irrtums. Es kommt jedoch sehr viel darauf an, worin einer eigentlich irrt. Denn bei sonst gleichen Verhältnissen wird immer der Wissende dem Unwissenden und der nicht Irrende dem Irrenden mit gutem Recht vorgezogen. Sind aber die Umstände nicht die gleichen, d.h. weiß der eine dies, der andere jenes, und zwar der eine etwas Nützliches, der andere bloß etwas weniger Nützliches oder sogar etwas Schädliches, wer würde da dem letzteren mit seinem Wissen nicht lieber einen vorziehen, der gar nichts weiß? Es gibt nämlich Dinge, wo es besser ist, gar nichts zu wissen, als davon Kenntnis zu haben, So war es beispielsweise gar manchmal nützlich, sich auf einem Irrweg zu befinden – ich meine das von einem wirklichen Weg zum Gehen, nicht von dem Weg des sittlichen Wandels. So ist es mir selbst einmal begegnet, daß ich an einem Scheideweg irre ging und infolgedessen nicht an dem Platze vorüber kam, wo ein Haufe von bewaffneten Donatisten im Verstecke lag und wartete, ob ich nicht vorüber käme. So gelangte ich erst auf einem Ab- und Umweg an mein Ziel. Als ich aber von der Nachstellung meiner Feinde Kenntnis erhielt, da wünschte ich mir selber Glück zu meinem Irrtum und sagte Gott dafür Dank. Wer möchte da noch zaudern, einen solchen Wanderer, der seinen Weg verfehlt hat, einem Räuber vorzuziehen, der nicht irre gegangen ist? Und wohl nur deshalb läßt der große Dichter einen unglücklichen Liebhaber klagen: „Sah's und ging zugrunde als Beute verderblichen Irrtums“, weil es ja auch einen guten Irrtum gibt, der nicht nur nichts schadet, sondern sogar noch etwas nützt. Doch suchen wir noch weiter in die Kenntnis der Wahrheit einzudringen. Da irren nichts anderes heißt, als das für wahr halten, was falsch ist und für falsch halten, was wahr ist oder etwas Gewisses für ungewiß, etwas Ungewisses dagegen für gewiß, ganz gleich, ob es nun wirklich falsch oder wahr ist, und da dies zudem für den Geist ebenso häßlich und ungehörig ist, als wir beim Sprechen und bei einer Zustimmung umgekehrt ein [bestimmtes] ja, ja, nein, nein als schön und passend empfinden, so erscheint gewiß unser gegenwärtiges Leben gerade deshalb als ein armes Leben, weil ihm bisweilen, soll es nicht verloren gehen, der Irrtum förmlich vonnöten ist. So darf jenes Leben sicher nicht sein, wo die Wahrheit selbst das Leben unserer Seele ist, wo niemand täuscht und niemand von anderen getäuscht wird. In diesem gegenwärtigen Leben aber täuschen die Menschen und werden selbst wieder getäuscht; unglückseliger aber sind sie dann, wenn sie andere durch Lug täuschen, als wenn sie im Vertrauen auf die lügenhaften Mitmenschen sich selbst täuschen lassen. So sehr aber widerspricht dem vernünftigen Wesen die Unwahrheit und so sehr geht es nach Möglichkeit dem Irrtum aus dem Wege, daß sogar die, welche gerne andere täuschen, selbst nicht getäuscht werden wollen. Denn wer lügt, glaubt selber nicht zu irren, sondern nur den Mitmenschen in Irrtum zu führen, der ihm Glauben schenkt. Und in der Tat, wenn er für sich weiß, was [in diesem Falle] die Wahrheit ist, dann irrt er in dem, was er mit seiner Lüge verdeckt, selbst zwar nicht, aber darin täuscht er sich doch, daß er glaubt, seine Lüge schade ihm nicht; schadet ja doch jede Lüge mehr denjenigen, die sie sagen , als denjenigen, die sie tragen.
 
 
Kapitel VI.
 
18. Allein hier entsteht eine sehr schwierige und dunkle Frage, über die ich schon einmal ein großes Buch geschrieben habe. Ich sah mich damals gezwungen, darauf Antwort zu geben, ob es manchmal für den Gerechten Pflicht sei, zu lügen. Manche Leute gehen nämlich so weit, daß sie die Behauptung aufstellen, auch falsch schwören und über Gegenstände der Gottesverehrung, ja sogar über das Wesen Gottes selbst etwas Unwahres aussagen, sei bisweilen ein gutes und frommes Werk. Denen gegenüber halte ich für meine Person jegliche Lüge für Sünde, wenngleich ich der Ansicht bin, es käme sehr viel darauf an, in welcher Gesinnung und zu welchen Zwecken jemand lügt. Denn es sündigt z. B., einer, der in der [guten Absicht] lügt, einem damit einen Rat zu geben, nicht so schwer wie ein anderer, der in der Absicht lügt, um einen anderen zu schädigen; oder jemand, der einen Wanderer durch seine lügnerische Auskunft einen falschen Weg weist, schadet nicht so sehr wie einer, der mit trügerischer Täuschung den Weg des Lebens verkehrt. – Gewiß darf einer, der etwas Falsches aussagt in der Meinung, es sei wahr, nicht für einen Lügner gehalten werden; denn soweit es auf ihn ankommt, täuscht er ja nicht, befindet sich vielmehr selbst in einer Täuschung. Darum trifft einen solchen auch nicht so fast der Vorwurf der Lüge, als vielmehr bisweilen der der Unüberlegtheit, weil er allzu unvorsichtig Unwahres glaubt und für wahr hält. Demgegenüber ist aber derjenige um so mehr ein Lügner, der zwar die Wahrheit sagt, sie aber persönlich für falsch hält. Denn was seine Gesinnung angeht, so sagt er die Wahrheit nicht, weil er das nicht sagt, was er denkt, mag sich nun tatsächlich auch herausstellen, daß das, was er sagt, wahr ist; und der darf von dem Vorwurf der Lüge nicht freigesprochen werden, der mit seinem Mund ohne es zu wissen, die Wahrheit spricht, während er wissentlich und willentlich lügt. Wenn wir also nicht die Sache selbst, um die es sich handelt, in Anschlag bringen, sondern bloß die Absicht dessen, der die Aussage macht, so ist doch derjenige, der ohne es zu wissen die Unwahrheit sagt, weil er sie für Wahrheit hält, besser, als wer wissentlich die Absicht zu lügen hat und dabei nicht weiß, daß das, was er sagt, doch Wahrheit ist. Jener hat ja nichts anderes im Sinn, als was er im Munde führt, bei diesem jedoch mag das, was er sagt, an sich wie nur immer beschaffen sein: er trägt etwas anderes in seinem Herzen verborgen als was ihm auf der Zunge liegt: und gerade dies ist recht eigentlich die Bosheit des Lügners. – Betrachten wir aber den Gegenstand der Rede selbst, so kommt es wesentlich darauf an, worin einer irrt oder lügt: während beispielsweise, soweit es den menschlichen Willen betrifft, der Irrtum ein kleineres Übel ist als die Lüge, so ist es doch bei weitem erträglicher, in Dingen, die mit der Religion nichts zu schaffen haben, zu lügen, als in solchen Dingen auch nur bloß zu irren, ohne deren Glauben oder Kenntnis man Gott nicht dienen kann. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: sehen wir einmal zu, was es zu bedeuten hat, wenn einer lügnerisch behauptet, dieser oder jener Tote sei noch am Leben oder wenn ein anderer irrtümlich glaubt, Christus werde nach irgendeinem längeren Zeitraum noch einmal sterben. Ist es da nicht ungleich besser, in jener Weise zu lügen, als sich auf solche Art zu irren, und es ist nicht ein weit geringeres Übel, jemanden in jenen Irrtum zu führen, als selber von einem andern in diesen zweiten Irrtum geführt zu werden?
 
 
19. In manchen Fällen bedeutet also der Irrtum für uns einen großen, in manchen einen kleinen, wieder in anderen gar keinen Nachteil, in manchen sogar einen Nutzen. Ein großer Schaden ist der Irrtum für den Menschen dann, wenn er das nicht glaubt, was zum ewigen Leben, oder wenn er das glaubt, was zum ewigen Tod führt. Nur ein geringer Schaden ist der Irrtum für den Menschen, der etwas Unwahres für wahr annimmt und dadurch in einige zeitliche Unannehmlichkeiten gerät, die sich jedoch durch gläubige, geduldige Hinnahme zum Guten kehren lassen. So ist es beispielsweise, wenn einer jemand für gut hält, der in Wirklichkeit schlecht ist und darum von ihm Böses erleiden muß. Wer aber einen schlechten Menschen zwar für gut hält, aber doch deshalb nichts Böses von ihm erleidet, der ist zwar im Irrtum, hat aber keinen Schaden dabei; ihn trifft auch die Drohung des Propheten nicht: „Wehe denen, die das, was böse ist, gut nennen!“ Denn dieser Ausspruch ist von dem zu verstehen, was die Menschen böse macht, nicht von den Menschen selbst. Darum wird [z.B.] durch das Wort des Propheten mit Recht der verurteilt, der den Ehebruch gut nennt. Wer aber einen Mann gut nennt, den er für keusch hält und von dessen Ehebruch er nichts weiß, der irrt nicht in dem Wissen von dem, was gut oder böse ist, sondern nur in bezug auf die Geheimnisse menschlicher Sittlichkeit, wenn er einen solchen Menschen gut nennt, den er im Besitz dessen glaubt, was ihm ohne Zweifel gut erscheint. Denn einen Ehebrecher bezeichnet er ja als schlecht und einen keuschen Mann als gut; dabei nennt er nun freilich jenen [ehebrecherischen] Mann gut, weil er eben nicht weiß, daß er ein Ehebrecher und darum nicht keusch ist. Wenn ferner jemand dank eines Irrtums dem Verderben entrinnt, so wie es mir selber nach dem vorhin Erzählten auf einer Reise zugestoßen ist, so bringt der Irrtum dem Menschen sogar Nutzen. Allein wenn ich sage, manchmal könne man ohne Schaden, ja sogar mit einem gewissen Nutzen irren, so behaupte ich damit nicht, es sei der Irrtum selbst kein Übel oder vielleicht gar noch ein wenn auch nur geringes Gut; nein, sondern ich rede von einem Übel, das [bloß zufällig] nicht eintrifft oder von einem Gut, das [bloß zufällig] eintrifft, wenn man irrt, d.h. ich rede von etwas, was infolge des Irrtums entweder eintritt oder nicht eintritt. Denn der Irrtum an sich ist ein Übel, entweder ein großes, wo es sich um eine wichtige, oder ein kleines, wo es sich um eine unbedeutende Sache handelt. Denn wer möchte es außer im Irrtum als kein Übel ansehen, Falsches als wahr anzunehmen oder Wahres als falsch zu verwerfen oder Ungewisses für gewiß oder Gewisses für ungewiß zu halten? Allein es besteht ein Unterschied, ob man jemanden für einen guten Menschen hält, der in Wirklichkeit ein Bösewicht ist, was ein Irrtum wäre, oder ob man infolge dieses Irrtums bloß kein weiteres Übel erleiden muß, weil der böse Mensch, den man für gut hält, gerade keinen Schaden verursacht. Desgleichen besteht darin ein Unterschied, ob man einen Weg für den rechten hält, der es doch in Wirklichkeit nicht ist, oder ob man aus diesem Übel, dem Irrtum, auch noch einen Nutzen zieht, wenn man z.B. dadurch den Nachstellungen böser Menschen entrinnt.