Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII. 

 Kapitel VII.

 20. Da sind aber noch einige Irrtümer, von denen ich wirklich nicht weiß, ob sie für Sünde gehalten werden müssen. So wenn ein Mensch einen schlechten Menschen für gut hält, weil er ihn nicht kennt, wie er ist. Oder wenn wir einen Gegenstand, den wir mit unsern leiblichen Sinnen wirklich wahrnehmen, mit einem anderen verwechseln, der diesem bloß ähnlich ist, oder wenn uns etwas, was rein geistig ist, gleichsam als etwas Körperliches, dagegen etwas, was bloß körperlich ist, gleichsam als etwas Geistiges erscheint – so erging es beispielsweise dem Apostel Petrus damals, wie er eine Erscheinung zu sehen glaubte, als er sich durch den Engel plötzlich aus dem Gefängnis und aus den Banden befreit fand – oder wenn auch in der Körperwelt etwas für zart gehalten wird, was in Wirklichkeit rauh, oder für süß, was in Wirklichkeit bitter ist, oder für wohlriechend, was in Wirklichkeit übel riecht, oder für Donnerrollen, was bloß Wagengerassel ist, oder wenn jemand mit einem andern verwechselt wird, falls die zwei einander sehr gleich sehen, was ja bei Zwillingen oft vorkommt – von solchen sagt darum der Dichter: „ ... den Eltern ein lieblicher Irrtum“ – und was dergleichen Irrtümer noch mehr sind.
 
Auch eine ganz verwickelte Frage, welche die so scharfsinnigen Akademiker gequält hat, will ich hier nicht zu enträtseln suchen, nämlich die Frage, ob denn der Weise überhaupt etwas als fest annehmen darf, um nicht, wenn er etwas Falsches für wahr gelten ließe, dem Irrtum zu verfallen, denn nach ihrer Behauptung ist ja alles entweder ganz verborgen oder wenigstens bloß ungewiß. Mit Rücksicht auf diese Frage habe ich bald nach meiner Bekehrung drei Bücher geschrieben, um damit Hindernisse zu beseitigen, die mir gleichsam schon auf der Schwelle den Weg zu vertreten drohten. Jedenfalls mußten gerade diese bangen Zweifel, ob ich überhaupt jemals die Wahrheit finden würde, weggeräumt werden; diese Verzweiflung findet aber scheinbar in den Beweisen [der Akademiker] eine Stütze. Denn diesen gilt ja jeglicher Irrtum als Sünde, die nach ihrer Meinung nur dann vermieden werden kann, wenn jede innere Zustimmung aufgehoben wird. Es irrt nämlich, wie sie sagen, jeder, der dem Ungewissen seine Zustimmung gibt, und es ist bei der verwirrenden Ähnlichkeit des Falschen [mit dem Gewissen und Wahren] in den Ansichten der Menschen nichts gewiß, wenn auch das, was man annimmt, zufällig einmal wahr ist: solche zwar äußerst scharfsinnige, aber ganz schamlose Erörterungen führen die Akademiker. Bei uns [Christen] aber „lebt der Gerechte aus dem Glauben“. Wird aber die innere Zustimmung hinfällig, dann wird auch der Glaube hinfällig, weil es ohne innere Zustimmung keinen Glauben gibt. Und es gibt wirklich Wahrheiten, wenn man sie auch mit den Sinnen nicht warnehmen kann. Ohne Glauben an sie kann man nicht zum seligen Leben, und das kann nur ein ewiges sein, gelangen. – Ob wir uns aber mit solchen Leuten in eine Besprechung einlassen sollen, die nicht einmal wissen, nicht ob sie [einst] ewig leben werden, sondern sogar ob sie überhaupt im gegenwärtigen Leben leben, das kann ich nicht sagen. Damit behaupten sie nämlich etwas nicht zu wissen, was sie doch wissen müßten: denn über die Tatsache seines eigenen Seins kann doch niemand im unklaren sein. Wer nämlich nicht ist, ist ja auch nicht einmal imstande, etwas nicht zu wissen: nicht bloß das Wissen, sondern auch das Nichtwissen ist ja schon ein Beweis dafür, daß einer ein Leben hat. Sie meinen freilich dadurch, daß sie ihr Sein nicht fest annehmen, dem Irrtum aus dem Wege zu gehen, während sie doch auch durch ihren Irrtum von der Tatsächlichkeit ihres Seins überzeugt werden: denn wer nicht ist, der kann auch nicht irren. So gut also, wie unser Sein nicht bloß eine wahre, sondern auch eine sichere Tatsache ist, ebenso gibt es noch gar manches andere, was wahr und sicher ist und dessen Leugnung man nicht bloß keine Weisheit, sondern sogar Wahnwitz nennen müßte.
 
 
21. Es gibt Dinge, wo es für die Erlangung des Reiches Gottes ganz belanglos ist, ob man sie glaubt oder nicht oder ob sie wirklich wahr sind oder wenigstens wahr scheinen oder ob sie überhaupt falsch sind: in solchen Dingen zu irren, d.h. das eine anstatt des anderen zu glauben, kann nicht für Sünde angesehen werden, oder wenn es doch eine Sünde wäre, bloß für eine ganz kleine und leichte. Von welcher Art und Schwere schließlich eine solche Sünde ist: sie hat keinen Bezug auf den Weg, der uns zu Gott führt, d.h. auf den Glauben an Christus, „der in der Liebe wirksam ist“. Von diesem Weg wich beispielsweise nicht der oben erwähnte, den Eltern so liebliche Irrtum bezüglich der Zwillinge ab, noch wich auch der Apostel Petrus davon ab, als er eine Erscheinung zu sehen vermeinte und so sehr eines für das andere hielt, daß er von seiner Vorstellung körperlicher Dinge, unter denen er sich zu befinden glaubte, die wirklichen Geschehnisse, die sich tatsächlich mit ihm ereigneten, nicht eher zu unterscheiden wußte, als bis ihn sein Befreier, der Engel, verließ; auch der Patriarch Jakob wich nicht von diesem Wege ab , als er seinen Sohn, der doch in Wirklichkeit noch lebte, von einem wilden Tier zerrissen glaubte. Bei diesen und ähnlichen Täuschungen irren wir, ohne daß unser Glaube an Gott Schaden litte, und sind wir auf einem falschen Weg, ohne daß wir den Weg verlassen müßten, der uns zu Gott führt. Doch müssen diese Irrtümer, wenn sie auch keine Sünde sind, immerhin zu den Übeln dieses Lebens gezählt werden, das auch insofern nichtiger Eitelkeit verfallen ist, als hienieden Falsches für wahr angenommen, Wahres als falsch verworfen und Ungewisses für gewiß gehalten wird. Denn wenngleich solche Dinge mit jenem wahren und sicheren Glauben nichts zu tun haben, durch den wir der ewigen Seligkeit zustreben, so haben sie doch mit jener Armseligkeit etwas zu tun, in der sich unser Leben hienieden bewegt. Wir würden nämlich nur dann in keiner Weise in irgendeiner geistigen oder körperlichen Wahrnehmung irren, wenn wir schon [hienieden] das wahre und vollkommene Glück [der Ewigkeit] genössen.
 
22. Jede Lüge muß aber sodann deshalb als Sünde bezeichnet werden, weil der Mensch nicht bloß dann, wenn er selbst weiß, was wahr ist, sondern auch dann, wenn er als Mensch bisweilen irrt und sich täuscht, das reden muß, was er in seinem Herzen denkt, mag dies nun wirklich [objektiv] wahr sein oder mag er bloß [subjektiv] der Ansicht sein, es sei wahr, ohne daß es wirklich wahr ist. Jeder aber, der lügt, redet im Gegensatz zu dem, was er wirklich denkt, in der Absicht zu täuschen. Und doch haben wir fürwahr die Sprache nicht zu dem Zwecke, damit sich die Menschen gegenseitig irreführen, sondern damit einer dem andern seine Gedanken mitteilen kann. Diese Sprache also zur Täuschung zu gebrauchen, ist Sünde; denn das ist ihr Zweck nicht. – Auch aus dem Grunde dürfen wir nicht glauben, die Lüge sei keine Sünde, weil wir bisweilen jemandem mit einer Lüge nützen können. Denn wir können ja auch durch Diebstahl nützen, wenn z.B. der Arme, dem [das gestohlene Gut] offen gegeben wird, Vorteil davon hat, während der Reiche, dem es heimlich weggenommen wird, den Nachteil gar nicht empfindet: und doch wird niemand einen solchen Diebstahl darum keine Sünde nennen. Auch durch Ehebruch könnten wir nützen, weil vielleicht das Weib, dem man hierin nicht zu Willen wäre, offenbar vor lauter Verliebtheit sterben würde, während es sich anderseits, falls es am Leben bleibt, durch Buße wieder reinigen könnte: und doch wird niemand sagen, ein solcher Ehebruch sei keine Sünde. Wenn aber mit Recht die Keuschheit unseren Beifall hat, was soll uns dann an der Wahrheit anstößig sein, so daß wegen eines fremden Nutzens zwar die Keuschheit nicht durch Ehebruch, wohl aber die Wahrheit durch Lüge verletzt werden dürfte? Tatsächlich läßt es sich freilich nicht leugnen, daß Menschen, die bloß um des allgemeinen Besten willen zu Lügnern werden, schon sehr viel Gutes getan haben; aber bei allem Erfolg wird mit Recht nur ihre gute Absicht, nicht ihre Täuschung [frommer Betrug!] gelobt oder gar zeitlich belohnt; es ist ja schon genug, wenn die Täuschung nicht weiter beachtet wird, nicht daß sie auch noch Lob erntet und das schon gar nicht von den Erben des Neuen Testamentes, denen das Wort gilt: „In eurem Munde bedeute ja [wirklich] ja und nein [wirklich] nein; denn was darüber ist, das ist von Übel!“ Und weil in dieser Sterblichkeit unaufhörlich solche Übel unterlaufen, müssen sogar die Miterben Christi sprechen: „Vergib uns unsere Schulden!“
 
 
Kapitel VIII.
 
23. Nachdem wir nun diese Fragen mit der notwendigen Kürze erörtert haben [, gehen wir weiter und sagen]: Weil wir die Ursachen des Guten und Bösen kennen müssen, soweit es der Weg erheischt, der uns zu dem Reiche führt, wo Leben ohne Tod, Wahrheit ohne Irrtum, Glück ohne Trübung sein wird, so dürfen wir nicht im geringsten daran zweifeln, daß bei allem, was uns Menschen betrifft, die Ursache des Guten allein die Güte Gottes ist, die Ursache des Bösen aber der von dem unwandelbaren Gut [Gott] abfallende Wille des wandelbar Guten [des Geschöpfes], der Engel zunächst, sodann der Menschen.
 
24. Das [nämlich dieser verderbte Wille] ist das erste Übel des vernünftigen Geschöpfes, d.h. die erste Minderung des Guten. Sodann schlich sich mit dem Nichtwollen auch Unwissenheit in dem ein, was es tun soll, und Begierlichkeit nach schädlichen Gütern, zwei Übel, zu denen sich von selbst noch Irrtum und Schmerz gesellen; jene Gemütsbewegung aber, die diesen Übeln bei ihrem Herannahen zu entgehen sucht, heißt Furcht. Erreicht sodann das Herz die Befriedigung seiner Begierden, mögen diese noch so verderblich und wertlos sein [doch davon weiß ja das Herz in seinem Wahne nichts], so fühlt es sich entweder von krankhafter Lust gefesselt oder in nichtiger Freude gewiegt. Aus diesen Quellen nicht des Überflusses, sondern der Not entströmt dann wie aus [ebenso vielen] Krankheitsquellen alles Elend der vernünftigen Geschöpfe.
 
25. Doch bei all ihren Übeln konnten diese Geschöpfe ihren Trieb nach Glückseligkeit nicht verlieren. Die genannten Übel nun haben Menschen und Engel miteinander gemeinsam; denn beide sind lediglich um ihrer Bosheit willen von der Gerechtigkeit ihres Herrn [Gottes] verurteilt worden. Den Menschen trifft dabei noch eine eigene Bestrafung, nämlich der leibliche Tod. Denn gerade die Todesstrafe war es, die Gott ihm für den Fall, daß er sündigen werde, angedroht hatte. Gott stattete den Menschen mit einem freien Willen aus, jedoch so, daß sein Befehl ihn lenken und seine Strafandrohung schrecken sollte; und er versetzte ihn in die Glückseligkeit des Paradieses, dieses Schattenbildes des [ewigen] Lebens; – von hier aus sollte er zu einem besseren Leben aufsteigen können, falls er seine Gerechtigkeit zu bewahren wußte.
 
26. Durch den Sündenfall wurde der Mensch jedoch [aus diesem Paradies] vertrieben: damit verwickelte er auch seine Nachkommenschaft, die er in seiner eigenen Person durch seine Sünde gleichsam in der Wurzel verderbt hatte, mit in die Strafe des Todes und der Verdammnis. Denn nun sollten alle Kinder, die von ihm und seiner zugleich mit ihm der Verdammnis verfallenen Gattin, seiner Verführerin zur Sünde, durch die Begierlichkeit des Fleisches [die nur eine ihrer Ungehorsamkeitssünde ähnliche Strafe ist] das Leben erhalten würden, mit der Erbsünde behaftet werden; um dieser Sünde willen sollten sie unter mannigfachen Verirrungen und Schmerzen mit samt den abtrünnigen Engeln, ihren Verführern, Herren und Sündengenossen, der endlosen Strafe [der Verdammung] verfallen. Also „ist durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod; und so ist der Tod auf alle Menschen übergegangen, weil alle in ihm gesündigt haben“. Unter „Welt“ versteht der Apostel [Paulus] an dieser Stelle das gesamte Menschengeschlecht.
 
27. So stand es also [nach dem Sündenfall] mit den Menschen. Die dem Verdammungsurteil unterworfene Gesamtheit des Menschengeschlechtes lag, ja wälzte sich förmlich im Bösen und stürzte von Bösem in Böses; so büßte sie für ihren gottlosen Abfall samt jenen Engeln, die gesündigt hatten. Und diese Strafe war ganz gerecht; denn den gerechten Zorn Gottes fordert alles heraus, was die Bösen in ihrer blinden und ungezügelten Begierlichkeit freiwillig tun, und auf ihn ist alles zurückzuführen, was sie, wenn auch wider ihren Willen, an offenbaren und verborgenen Strafen erdulden müssen. Dabei spendet aber die Güte des Schöpfers doch auch den bösen Engeln unaufhörlich Leben und Lebenskraft, ohne deren aufrecht erhaltende Macht sie zugrunde gehen würden , und gibt den Menschen, die doch aus krankhaftem und verworfenem Stamm entsprießen, Samen und belebt sie, ordnet ihren Gliederbau, gibt ihren Sinnen Kraft zur Betätigung in Zeit und Raum und gewährt ihnen Unterhalt. Denn Gott hielt es für besser, selbst aus dem Bösen Gutes zu schaffen, als überhaupt nichts Böses zuzulassen. Aber selbst wenn er gar nicht gewollt hätte, daß sich der Mensch zum Bessern umwandle, so wie es ja auch keine Besserung der gottlosen Engel mehr gibt, würde dann nicht trotzdem das ganze Menschengeschlecht mit vollem Recht auf ewig von ihm verstoßen? Und würde es nicht wirklich eine ewige Strafe verdienen? Dieses Menschengeschlecht verließ ja Gott, trat in Mißbrauch seiner Macht [des freien Willens] das Gebot seines Schöpfers, das es doch ganz leicht hätte halten können, achtlos mit Füßen, entstellte in sich das Bild seines Schöpfers, von dessen Licht es sich hartnäckig abwandte, und riß sich unter Mißbrauch seines freien Willens von Gottes Gesetzen und der heilsamen Unterordnung unter dieselben los. Und Gott hätte sicher so [gerecht] gehandelt, wenn er nur gerecht und nicht auch barmherzig wäre und wenn er nicht lieber seine frei gespendete Barmherzigkeit in der Rettung Unwürdiger um so augenscheinlicher strahlen lassen wollte.