Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXIII.  

 Kapitel XXVII.

 Wenn wir also hören und in den heiligen Büchern lesen, dass ( Gott ) das Heil aller Menschen will, obschon wir sicher sind, dass nicht alle Menschen gerettet werden, so dürfen wir deshalb doch den allmächtigen Willen Gottes nicht einengen. Wir müssen vielmehr das, was geschrieben steht: “der das Heil aller Menschen will“, so verstehen, als hieße es, kein Mensch werde gerettet, den er nicht gerettet haben will. (Nicht also in dem Sinn), als ob es keinen Menschen gebe, den er nicht gerettet haben will, und dass man ihn deshalb bitten muß, damit er das wolle, weil es notwendig geschieht, wenn er es will. Dem Apostel ging es, als er diesen Ausspruch tat, um dieses Gebet zu Gott. So verstehen wir auch das Wort des Evangeliums: „Der jeden Menschen erleuchtet“. Das bedeutet nicht, dass es keinen Menschen gibt, der nicht erleuchtet wird, sondern dass jeder, der erleuchtet wird, von ihm erleuchtet wird.
Oder auch der Ausspruch: „Der will, dass alle Menschen gerettet werden“, ist gewiss nicht dahin zu deuten, als ob es keinen Menschen gäbe, den er nicht gerettet haben wollte, weil er ja doch bei denen keine Wunder tun wollte, die nach seiner eigenen Aussage Buße getan hätten, wenn er (Wunder) gewirkt hätte. Sondern unter „allen Menschen“ haben wir das ganze Menschengeschlecht zu verstehen mit all den Verschiedenheiten, die es in sich birgt: Könige oder Privatleute, Adelige oder Nichtadelige, Hohe oder Niedrige, Gelehrte oder Ungelehrte, Gesunde oder Gebrechliche, Menschen von Geist oder von langsamer Fassungskraft oder von Geistesschwäche, Reiche oder Arme oder mäßig Bemittelte, Männer oder Frauen, Kinder oder Knaben, Jünglinge oder junge Männer, Männer von reifem Alter oder schon Greise, Menschen aller Sprachen und Sitten, aller Künste und Berufe, Menschen von den verschiedensten Willensrichtungen und von der verschiedensten Gewissensverfassung und was es sonst noch für einen Unterschied unter den Menschen geben kann. Denn was gibt es für Menschenklassen, aus denen nicht Gott durch seinen Eingeborenen, unsern Herrn, unter allen Völkern Menschen zur Seligkeit führen wollte und an denen er nicht darum, weil sein Wollen doch kein leeres sein kann, auch wirklich all das erfüllte, was er will. Der Apostel hatte befohlen, es solle „für alle Menschen“ gebetet werden und hatte hinzugefügt, in Sonderheit „für die Könige und für die Obrigkeiten, die an leitender Stelle sind“, von denen man hätte glauben können, sie wollten infolge des weltlichen Prunkes oder Hochmutes von der Demut des christlichen Glaubens nichts wissen. Der Apostel fährt dann weiter: „denn das ist gut vor dem Heiland, unserm Gott“ – er meint nämlich, daß für solche Menschen gebetet werde –; und um jede Hoffnungslosigkeit zu beseitigen, fügt er Sofort bei: „[Gott,] der da will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ Denn das hat Gott für gut erachtet, daß durch das Gebet der Niedrigen das Heil der Hochstehenden bewirkt werde, was sich, wie wir jetzt sehen, in der Tat erfüllt hat. – Jener Ausdrucksweise hat sich auch der Herr im Evangelium bedient, wo er zu den Pharisäern sagte: „Ihr verzehntet die Minze und die Raute und jedes Kraut“ Denn auch die Pharisäer verzehnteten ja doch nicht alle fremden Kräuter und alle Kräuter aller anderen Völker aller Länder. Wie wir nun hier an dieser Stelle unter „jedem Kraut“ nur alle Arten von Kräutern verstehen, so können wir an jener Stelle unter „allen Menschen“ alle Klassen von Menschen verstehen. Man kann die Stelle schließlich auch noch irgendwie anders verstehen, wenn wir durch diese Auffassung nur nicht zu dem Glauben genötigt werden, der Allmächtige habe etwas geschehen lassen wollen und es sei dann doch tatsächlich nicht geschehen; denn wenn Gott, wie die Wahrheit von ihm singt, „im Himmel und auf Erden alles getan hat, was nur immer er wollte“, dann hat er sicherlich all das, was er nicht getan hat, auch wirklich nicht tun wollen.
 
 
Kapitel XXVIII.
 
104. Demnach hätte Gott auch den ersten Menschen in seiner ursprünglich anerschaffenen Seligkeit auch erhalten und ihn zu seiner Zeit nach Erzeugung von Kindern ohne Dazwischentreten des Todes in ein besseres Sein hinüberführen wollen, wo er nicht bloß keine Sünde mehr begehen, sondern nicht einmal mehr den Willen zu sündigen hätte haben können, wenn eben Gott vorausgewußt hätte, der Mensch würde entsprechend seiner Erschaffung für immer den Willen haben, ohne Sünde zu bleiben. Weil er aber vorauswußte, der Mensch werde seinen freien Willen mißbrauchen, d.h. sündigen, so hat er lieber seinen Willen dahin gerichtet, daß er [Gott] Gutes wirkte durch den, der Böses tat und daß so die gute Absicht des Allmächtigen nicht durch den bösen Willen des Menschen vereitelt, sondern darum nicht weniger in Erfüllung gebracht wurde.
 
105. Denn der Mensch mußte von Anfang an so geschaffen werden, daß er das Gute und auch das Böse wollen konnte, nicht ohne Lohn, wenn er das Gute, aber auch nicht ohne Strafe, wenn er das Böse wollte. Später aber wird es so sein, daß er das Böse gar nicht einmal mehr wollen kann. Allein auch in diesem Zustand wird er des freien Willens nicht entbehren. Im Gegenteil, der Wille wird sogar noch viel freier sein, weil er der Sünde überhaupt nicht mehr wird dienen können. Denn über einen Willen, mit dem wir so glücklich sein wollen, daß wir nicht unglücklich sein wollen, ja nicht einmal imstande sind, unglücklich sein zu wollen, darf man sich nicht beklagen; sonst wäre er überhaupt kein Wille, wenigstens dürfte man ihn nicht einen freien Willen nennen. Wie also unsere Seele in unserm jetzigen Zustand das Unglücklichsein nicht will, so wird sie dereinst für immer das Bösesein nicht wollen. Doch auch eine solche Ordnung der Dinge war notwendig, wo Gott uns zeigen wollte, wie gut ein vernunftbegabtes Wesen sei, das die Fähigkeit besitzt die Sünde auch nicht zu wollen [non peccare posse], wenngleich ein Wesen, das die Fähigkeit, die Sünde zu wollen, gar nicht besitzt [peccare non posse], an sich besser ist. So war es auch eine geringere Stufe der Unsterblichkeit – immerhin war aber auch dies schon eine –, die Fähigkeit zu besitzen, auch nicht zu sterben [posse non mori], wenn es gleich ein höherer Grad der Unsterblichkeit sein wird, die Fähigkeit zu sterben überhaupt nicht zu besitzen [non posse mori].
 
106. Die erstere Art von Unsterblichkeit hat die Menschennatur durch ihren freien Willen verloren, die letztere Art wird sie empfangen durch die Gnade; diese hätte sie im Falle, daß sie nicht in Sünde gefallen wäre, als Verdienst empfangen, obgleich es auch in diesem Falle ohne Gnade keinerlei Verdienst hätte geben können. Denn wenn auch die Sünde einzig und allein im freien Willen ihre Begründung hatte, so genügte doch der freie Wille nicht dazu, die Gerechtigkeit zu bewahren. Es mußte vielmehr die teilnehmende Liebe des [trotz aller Beleidigung] unveränderlich gut bleibenden Gottes Hilfe bringen. So liegt es auch in der Gewalt des Menschen, zu sterben, wenn er will; denn es gibt, um kein anderes Beispiel anführen zu müssen, keinen Menschen, der sich nicht durch bloße Enthaltung vom Essen selbst ums Leben bringen könnte; um aber das Leben zu erhalten, dazu genügt der bloße Wille nicht es die Hilfe der Nahrung und all der anderen Schutzmittel nicht fehlen. Geradeso war der Mensch im Paradies kraft seines Willens imstande, die Gerechtigkeit zu verlassen und sich das Leben zu rauben; allein um das Leben der Gerechtigkeit zu bewahren, dazu reichte sein Wille noch nicht aus; es mußte ihm derjenige, der ihn geschaffen hatte, auch wieder zu Hilfe kommen. Aber seit jenem Fall ist die Barmherzigkeit Gottes noch größer; muß ja doch jetzt sogar auch noch der Wille selbst befreit werden, über den nun neben dem Tod auch noch die Sünde Herrschaft gewonnen hat. Davon wird der Wille aber durchaus nicht von selber befreit, sondern ganz allein durch die Gnade Gottes, die im Glauben an Christus ihre Begründung hat. So wird also der Wille selbst nach dem Worte der Schrift von Gott vorbereitet, damit er die übrigen Gaben Gottes aufnehmen kann, durch die der Mensch erst zur Gabe der ewigen Seligkeit gelangt.
 
 
107. Daher kommt es, daß auch das ewige Leben, das doch gewiß der Lohn für die guten Werke ist, vom Apostel eine Gnade Gottes genannt wird, „Der Sold der Sünde“, sagt er, „ist der Tod; eine Gnade Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn,“ Ein Sold wird als [schuldiger] Lohn für einen Kriegsdienst bezahlt, er wird nicht geschenkt. Darum sagt der Apostel: „Der Sold der Sünde ist der Tod.“ Damit will er zeigen, daß der Tod nicht als etwas Unverschuldetes, sondern als der ihr gebührende Lohn über die Sünde verhängt ist. Gnade aber ist überhaupt keine Gnade mehr, wenn sie nicht ein Gnadengeschenk ist. Damit ist zu verstehen gegeben, daß auch die guten Verdienste des Menschen Geschenke Gottes sind. Und wenn man dafür ewiges Leben erhält, was ist das anderes, als daß eine Gnade mit einer anderen vergolten wird? So also ist der Mensch in seiner [ursprünglichen] Gerechtigkeit geschaffen worden, daß er in dieser Gerechtigkeit ohne den Beistand Gottes nicht beharren und andererseits nicht ohne seinen eigenen Willen zu Fall kommen konnte. Er mochte das eine oder das andere wollen, in jedem Fall geschah Gottes Wille, entweder auch von ihm [indem er tat, was Gott wollte] oder wenigstens an ihm. Weil er nun aber lieber seinen eigenen Willen erfüllen wollte als den Willen Gottes, so ging der Wille Gottes an ihm in Erfüllung, der aus ein und derselben Masse der von Adam abstammenden verdammten Menschheit bald ein Gefäß der Ehre, bald ein Gefäß der Schande macht, und zwar eines zur Ehre in seiner Barmherzigkeit, eines zur Unehre aber in seinem Gericht: es soll sich darum niemand eines Menschen und infolgedessen auch nicht seiner selbst rühmen.
 
108. Auch selbst durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus, würden wir nicht erlöst werden, wäre er nicht auch zugleich Gott. Damals aber, als Adam, der Mensch der Gerechtigkeit, geschaffen wurde, bedurfte es keines Mittlers. Nachdem aber die Sünden das Menschengeschlecht weit von seinem Gott getrennt hatten, mußten wir allein durch den Mittler, der allein sündenlos zur Welt kam, lebte und starb, wieder mit Gott versöhnt werden, [und zwar mußte sich diese Versöhnung erstrecken] bis zur Auferstehung des Fleisches zum ewigen Leben. So mußte der Menschenstolz durch die Demut Gottes zurückgewiesen und geheilt werden. Dem Menschen sollte bewusst gemacht werden, wie weit er von Gott abgeirrt war, da er durch den menschgewordenen Gott zurückgerufen werden mußte. Dem Eigenwillen des Menschen mußte durch den Gottmenschen ein Beispiel des Gehorsams gegeben werden. Indem der Eingeborene Knechtsgestalt annahm, die vorher ohne alles Verdienst gewesen war, sollte sich eine Quelle der Gnaden öffnen, und die den Erlösten verheißene Auferstehung auch des Leibes sollte an dem Erlöser selbst zum voraus Wahrheit werden. Der Teufel sollte durch dieselbe menschliche Natur, über deren Verführung er sich freute, besiegt werden; der Mensch aber sollte sich nicht rühmen, damit sich der Stolz nicht abermals erhebe. Vielleicht ließe sich über das große Geheimnis vom Erlöser noch manches andere von denen, zu deren Nutzen es geschehen ist, erdenken und sagen oder vielleicht auch bloß erdenken, wenn auch nicht aussprechen.