Des Hl. Aurelius Augustinus (354-430)  
Handbüchlein über Glaube Hoffnung und Liebe / Enchiridion 

Kapitel I. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Kapitel VII. Kapitel VIII. Kapitel IX. Kapitel X. 
Kapitel XI. Kapitel XII. Kapitel XIII. Kapitel XIV. Kapitel XV. Kapitel XVI. Kapitel XVII. Kapitel XVIII. Kapitel XIX. Kapitel XX. 
Kapitel XXI. Kapitel XXII. Kapitel XXIII. Kapitel XXIV. Kapitel XXV. Kapitel XXVI. Kapitel XXVII. Kapitel XXVIII. Kapitel XXIX. Kapitel XXX.  Kapitel XXXI. Kapitel XXXII. Kapitel XXXII.

 Kapitel XXXI.

 117. Was nun aber weiterhin die Liebe angeht, die nach dem Worte des Apostels größer ist als die beiden schon behandelten Tugenden, nämlich als Glaube und Hoffnung, so richtet sich die Güte ihres Besitzers ganz nach dem Maße, in dem er sie besitzt. Fragt es sich einmal bei jemand, ob er überhaupt gut sei, so kommt es nicht darauf an, was er glaubt oder worauf er hofft, sondern darauf, was er liebt. Denn wer die rechte Liebe hat, der hat zweifellos auch den rechten Glauben und die rechte Hoffnung. Wer aber die Liebe nicht hat, dessen Glaube ist nichtig, mag auch das, was er glaubt, die Wahrheit sein, und dessen Hoffnung ist nichtig, mag auch das, was er hofft, nach der Lehre [der Kirche] tatsächlich der wahren Glückseligkeit gelten; [dies ist nur dann nicht der Fall], wenn er auch das glaubt und hofft, was ihm, wenn er darum bittet, als Gegenstand seiner Liebe zuteil werden kann. Denn wenngleich er ohne Liebe auch keine Hoffnung haben kann, so kann er doch möglicherweise gerade das nicht lieben, was er lieben muß, um zum Inhalt seiner Hoffnung zu gelangen, z.B. wenn jemand das ewige Leben erhofft – und wer möchte das nicht lieben? – dabei aber die Gerechtigkeit nicht liebt, ohne die niemand zum ewigen Leben gelangen kann. – Und was den Glauben betrifft, so ist derjenige der vom Apostel empfohlene Glaube an Christus, der durch die Liebe wirksam ist und der das, was ihm an der Liebe noch fehlt, erbittet, auf daß er es empfange, sucht, auf daß er es finde, und der darum anklopft, auf daß ihm auf getan werde. Denn der Glaube erlangt, was das Gesetz verlangt. Denn ohne Gottes Gabe, d.h. ohne den Heiligen Geist, durch den die Liebe in unsere Herzen ausgegossen wird, kann das Gesetz wohl gebieten, aber nicht helfen, und es kann überdies einen Übertreter [des Gesetzes] schaffen, der sich mit Unkenntnis des Gesetzes nicht entschuldigen kann. Denn dort ist die fleischliche Begierde Herr, wo die Gottesliebe nicht waltet.
 
 
118. In tiefster Finsternis und Unwissenheit ein Leben des Fleisches zu führen, ohne daß sich die Vernunft auch nur dagegen sträubt, das ist der erste Zustand des Menschen. Ist dann mit dem Gesetz auch die Kenntnis der Sünde gekommen, ohne daß der göttliche Geist schon zu Hilfe kommt, so unterliegt der Mensch, wenn er auch nach dem Gesetze leben will, und er sündigt mit Wissen und ist ein Knecht und Sklave der Sünde: „Denn dem, von welchem einer besiegt worden ist, wird er auch als Sklave zugesprochen.“ Das ist nämlich die Wirkung der Kenntnis des Gebotes, daß die Sünde im Menschen jede Begierlichkeit weckt – und diese kommt zur Erfüllung in der Übertretung – und daß sich so das Schriftwort erfüllt: „Das Gesetz ist dazwischen gekommen, damit die Sünde Überhand nehme.“ Dies gilt vom zweiten Zustand des Menschen. Wenn aber Gott einmal sieht, wie man von ihm glaubt, er werde zur Erfüllung der von ihm gegebenen Gebote auch mithelfen, und wenn der Mensch einmal vom Geiste Gottes getrieben wird, so richtet sich mit der wachsenden Kraft der Liebe das Begehren [des Menschen] gegen das Fleisch, so daß zwar seine Schwäche noch nicht gänzlich geheilt und darum in ihm noch ein Widerstreit vorhanden ist, er lebt jedoch aus dem Glauben als Gerechter, und er lebt gerecht, soweit er der bösen Begierde nicht nachgibt und die Lust an der Gerechtigkeit den Sieg behält. Das ist dann der dritte Zustand, der Zustand des Menschen, der auf dem Grunde guter Hoffnung steht. Wer darin in frommer Beharrlichkeit weiterschreitet, den erwartet als schließlicher letzter Zustand jener Friede, der nach dem gegenwärtigen Leben in der Ruhe des Geistes und endlich in der Auferstehung auch des Fleisches seine Verwirklichung finden wird. Von diesen vier verschiedenen Zuständen fällt der erste vor das Gesetz, der zweite unter das Gesetz, der dritte unter die Gnade und der vierte in den vollen und vollkommenen Frieden. So war auch das Volk Gottes in den verschiedenen Zeitläuften geordnet nach dem Wohlgefallen Gottes, der alles nach Maß, Zahl und Gewicht einteilt. Denn das Volk Gottes lebte zuerst vor dem Gesetze, dann unter dem von Moses gegebenen Gesetz, hierauf unter der in der ersten Ankunft des Erlösers offenbar gewordenen Gnade. Diese Gnade fehlte allerdings auch vor diesem Zeitpunkt denen nicht, welchen sie zuteil werden sollte; doch war sie der Ordnung der Zeit entsprechend noch in Verborgenheit gehüllt. Denn auch von den Gerechten der früheren Zeit konnte keiner außerhalb des Glaubens an Christus das Heil finden; wäre nämlich Christus nicht auch schon ihnen bekannt gewesen, dann hätte er ja auch uns nicht bald offener, bald verhüllter gerade durch sie prophezeit werden können.
 
119. In was immer für einem dieser vier Alter, wenn wir es so nennen wollen, die Gnade der Erneuerung einen Menschen finden mag, da werden ihm alle Sünden seiner Vergangenheit nachgelassen und auch die infolge seiner Geburt auf ihm lastende Schuld wird durch die Wiedergeburt getilgt. Und so sehr gilt das Wort, daß „der Geist weht, wo er will“, daß mancher jene zweite Knechtschaft unter dem Gesetz gar nicht kennen zu lernen braucht, sondern mit dem Gebote auch schon die göttliche Gnadenhilfe erlangt.
 
120. Bevor aber der Mensch imstande ist, das Gebot zu erhalten, muß er bereits dem Fleische nach am Leben sein; ist er aber einmal mit dem Sakrament der Wiedergeburt getauft, dann kann es ihm keinen Schaden mehr bringen, wenn er dann auch gleich wieder aus diesem Leben scheidet. „Denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden, damit er sowohl über die Lebendigen als auch über die Toten herrsche“; und das Totenreich wird den nicht in seiner Gewalt behalten, für den derjenige starb, der frei ist unter den Toten“.
 
 
Kapitel XXXII.
 
121. Es zielen demnach alle Gebote Gottes auf die Liebe ab, von der der Apostel sagt: „Der Endzweck des Gebotes aber ist die Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und unverfälschtem Glauben.“ Eines jeden Gebotes Endzweck ist also die Liebe, d.h. auf die Liebe zielt jedes Gebot ab. Was aber nur aus Furcht vor Strafe oder in irgendeiner bloß fleischlichen Absicht geschieht, so daß es nicht auf jene Liebe abzielt, die der Heilige Geist in unsere Herzen ausgießt, das geschieht noch nicht so, wie es geschehen soll, und wenn es auch noch so sehr den Anschein davon erweckt. Die Liebe nun ist eine doppelte: eine Liebe zu Gott und eine Liebe zum Nächsten; an diesen beiden Geboten hängt bekanntlich das ganze Gesetz und die Propheten. Nimm noch das Evangelium [die Lehre der] Apostel hinzu; denn nur dort steht es geschrieben, daß der Endzweck des Gebotes die Liebe ist und daß Gott die Liebe ist . Alle Gebote Gottes, also z.B. das: „Du sollst nicht ehebrechen“, und all das, was er zwar nicht gebietet, sondern nur als geistlichen Rat ans Herz legt, z.B.: „Gut ist es für den Mann, kein Weib zu berühren“, ist in rechter Weise getan, wenn es auf die Liebe Gottes bezogen ist und auf die Liebe zum Nächsten – um Gottes willen. Das gilt für unsere Zeit und für die Ewigkeit. Gott müssen wir jetzt lieben durch den Glauben, dann durch die Schau, und auch den Nächsten müssen wir jetzt lieben durch den Glauben.
Denn wir Sterblichen kennen das Herz der Sterblichen nicht; im Jenseits aber „wird der Herr das in Finsternis Verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbar machen; und dann wird einem jeden sein Lob werden von Gott“. Das wird dann ein Mitbruder am anderen loben und lieben, was von Gott selbst ans Licht gebracht werden wird, auf daß es nicht verborgen bleibe. Es nimmt aber die Begierlichkeit ab mit dem Wachstum der Liebe, bis sie schließlich ihre höchstmögliche Größe erreicht hat: „Eine größere Liebe hat aber niemand, als daß er sein Leben hingebe für seine Freunde.“ Wie groß aber im Jenseits die Liebe sein wird, wo es doch keine Begierlichkeit mehr gibt, die sie siegreich in Schranken halten müßte, wer möchte das klar machen wollen? Es herrscht ja doch völliges Gesundsein, wo der Tod gar nichts mehr hat, was er streitig machen könnte.
 
Kapitel XXXIII. 
122. Jetzt muß ich aber endlich dieses Buch beschließen. Du magst selber zusehen, ob du ihm den Namen und die Aufgabe eines Handbuches geben willst. Ich aber habe geglaubt, deinen Eifer in Christus nicht verachten zu dürfen. Mit Hilfe des Erlösers glaube ich Gutes von dir und erhoffe es, und ich liebe dich sehr unter seinen Gliedern. Deshalb habe ich für dich, so gut wie ich es vermochte – und ich wünsche, das es dir so dienlich sei, wie es umfangreich geworden ist -, dieses Buch geschrieben vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe.
 
 
 
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